Einige Wochen später trafen sich Team und Coaches am Neckar. Wir sahen uns zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, sprachen zum ersten Mal privat mit den Coaches und bekamen bereits viel von ihren Jessup-Erfahrungen erzählt, sodass wir nach diesem Nachmittag den Wettbewerbsbeginn kaum noch abwarten konnten. Aber zunächst mussten wir uns noch ausgiebig auf den Start vorbereiten und das hieß vor allem: sich ins Völkerrecht einarbeiten. So wurde „der Brownlie“, ein Standardlehrbuch des Völkerrechts, zu unserem ständigen Begleiter während der Semesterferien, sei es in Südafrika oder als Zeitvertreib auf der 22-stündigen Busfahrt von Bolivien nach Paraguay. Dann, am 14. September, stieg die Spannung, denn an diesem Tag sollte der Compromis - der zu bearbeitende Sachverhalt - veröffentlicht werden.
Nach ständigem aktualisieren der Internetseite war es dann gegen Abend soweit und wir wussten:
Wir würden uns im nächsten halben Jahr mit Klimaflüchtlingen, der Staatlichkeit versunkener Inseln, Menschenrechten von Gefangenen und den Folgen des Schuldenmoratoriums eines kleinen Inselstaates auseinandersetzen.
Nach Bezug unseres geräumigen Büros im Max-Planck-Institut und einigen Vorüberlegungen war dann auch klar, wie die Rollen innerhalb des Teams verteilt sein würden: Nadine Berger und Fin-Jasper Langmack würden als Anwälte des großen Industriestaates Rutasia auftreten. Elli Benz, Sophie Eichhorn und Felix Boos schlüpften in die „Underdog-Rolle“ als Vertreter des sympathischen - allerdings versunkenen - Inselstaates Alfurna.
Mit diesen Positionen im Kopf begann die erste Vorbereitungsphase in Hinblick auf die National Rounds im Februar 2013. Eingeteilt in Kläger und Beklagter war es unser Ziel, die besten Argumente für unseren jeweiligen Staat zu finden und diese in zwei möglichst überzeugende Memorials zu gießen. Angeleitet von unseren Coaches lernten wir, vom neutralen Gutachtenstil Abstand zu nehmen, in die Anwaltsrolle zu schlüpfen und stringente Argumente zu formulieren. Da sich Antworten auf aktuelle Fragen des Völkerrechts wie die der Zukunft kleiner, vom steigenden Meeresspiegel bedrohter Inselstaaten oder von Klimaflüchtlingen nicht schon fertig aufbereitet in Lehrbüchern oder Skripten finden, war eigene rechtliche Recherche, Kreativität und eine große Portion Glaube an die eigene Argumentations- und Überzeugungsfähigkeit gefragt. Doch dank der umfangreichen Bibliothek des Max-Planck-Instituts, sowie unserer guten Betreuung hatten wir beste Voraussetzungen, diese Herausforderung zu meistern. Hinzu kam, dass sich in dieser arbeitsintensiven Phase, in der sich unser Büro nicht nur in unser Zuhause, sondern ebenfalls in eine eigene, kleine Völkerrechtsbibliothek verwandelte, ein ausgesprochener Teamgeist unter uns „Mooties“ entwickelte. Es wurde heftig diskutiert, viel herzhaft gelacht und wenn einer nach schier endloser Quellensuche in einem Urteil des Gerichtshofs von Zypern oder in einem philippinischen Einwanderungsgesetz endlich etwas Passendes gefunden hatte, war die gemeinsame Freude groß. Dieser einmalige Teamgeist, der am Anfang noch durch einen gelungenen Ausflug nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestärkt worden war, half, auch in einer Woche, in der vielleicht einmal kein so großer Fortschritt zu spüren war, nicht den Spaß an der Recherchearbeit zu verlieren. Er entschädigte für fehlende Stunden Schlaf und verkürzte Feiertage an Weihnachten und ließ nächtliche Spaziergänge im Neuenheimer Feld oder Ausflüge zur nächsten Dönerbude zu erinnerungswürdigen Erlebnissen werden.
Am Ende dieser intensiven Phase überwog der Stolz, die druckfrischen und gebundenen Schriftsätze in den Händen zu halten, die Erschöpfung des Abgabeendspurts. Um die prägende Erfahrung reicher, es mit kaum völkerrechtlichen Vorkenntnissen geschafft zu haben, zwei Memorials mit durchdachten und auf den Punkt gebrachten Argumenten zu verfassen, starteten wir in die Pleadingphase.
Während in der Memorialphase schwierige Rechtsfragen im Zentrum standen, ging es nun darum, die rechtlichen Argumente in eine Geschichte einzubetten und überzeugend in einem 21-23 minütigen Plädoyer den Richtern zu präsentieren. In rund 15 Probe-Pleadings stellten wir uns den kritischen Fragen unserer Coaches, ehemaligen Teilnehmern des Jessup, Anwälten und Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts. Nachdem unsere Rhetorik geschliffen und letzte Wissenslücken gefüllt waren, fieberten wir gespannt dem Ernstfall entgegen.