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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Carsten Stahn


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

e) Art. 9 EMRK als Abschiebungshindernis

      56. In seinem Urteil vom 20.1.2000 (12 A 11883/96 = NVwZ 2000, Beilage Nr. 8, 90) hatte das OVG Rheinland-Pfalz über den Abschiebungsschutz eines algerischen Staatsangehörigen zu befinden, der vom Islam zum Glauben der Zeugen Jehovas übergetreten war und seiner Abschiebung nach Algerien die Beschränkung seiner Religionsausübung im Zielstaat und die Gefahr fundamentalistischer Übergriffe entgegenhielt. Der Kläger hatte sich zur Begründung seiner Klage auf Abschiebungsschutz nach � 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 und Art. 9 EMRK berufen. Das VG war diesem Vortrag in Bezug auf � 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 EMRK gefolgt. Das OVG Koblenz hingegen erachtete die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten in vollem Umfang für begründet. In Anlehung an die Rechtsprechung des BVerwG (vgl. auch Urteil [28]) entschied es, daß Abschiebungsschutz nach � 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 EMRK nur in Betracht kommt, wenn die Beschränkung der Religionsausübung im Zielstaat der Abschiebung ähnlich schwer wiegt wie die nach Art. 3 EMRK verbotenen Eingriffe. Dies sei bei der Versagung des religiösen Existenzminimums der Fall. Nicht davon erfaßt sei jedoch die öffentliche Verkündigung der Glaubensüberzeugungen der Zeugen Jehovas in Algerien und das Missionieren, und zwar unabhängig davon, wie stark der Ausländer sich selbst hierzu innerlich verpflichtet fühle. Die notwendige Differenzierung könne dabei der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG zum Umfang des Asylgrundrechts bei an den Glauben und seine Betätigung anknüpfenden Verfolgungsmaßnahmen entnommen werden. Danach umfasse das religiöse Existenzminimum die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa den häuslichen Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und den Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen dürfe. Dieser Kernbereich religiöser Betätigung sei dem Kläger jedoch auch in seinem Heimatland gewährleistet. Wenn auch der Übertritt vom Islam zum Glauben der Zeugen Jehovas nicht von der in der algerischen Verfassung niedergelegten Religionsfreiheit umfasst werde, knüpfe der algerische Staat an einen solchen Übertritt keine strafrechtlichen Folgen. Daß dem Kläger eine Missionstätigkeit für die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in Algerien nicht gestattet sei, sondern staatlicherseits eine Verwarnung des Klägers nach sich zöge, verleihe ihm keinen Abschiebungsschutz nach � 53 Abs. 4 AuslG. Denn sowohl die öffentliche Verkündigung der Glaubensüberzeugungen der Zeugen Jehovas, als auch das Missionieren seien Handlungen, die über das religiöse Existenzminimum hinausgingen. Schließlich könne der Kläger sich im Rahmen von � 53 Abs. 4 AuslG auch nicht auf die Gefahren berufen, die ihm wegen seines Übertritts zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas durch islamische Fundamentalisten in Algerien drohten. Beschränke sich der Kläger nämlich auf das bereits umschriebene religiöse Existenzminimum, seien Konsequenzen seitens fundamentalistischer Muslime nicht zu befürchten. Auch werde dem Kläger in der islamisch geprägten Umwelt seiner Heimat nicht etwa angesonnen, seine Religionszugehörigkeit als solche geheimzuhalten, um Repressalien zu entgehen. Vielmehr könne er sich anderen Glaubensbrüdern der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in Algerien selbstverständlich öffnen, mit diesen in Versammlungen über ihre Glaubensinhalte reden und auch gemeinsam beten. Angesichts dessen bedürfe es keiner Ausführungen zu der Frage, ob der algerische Staat im Falle von Übergriffen islamischer Fundamentalisten auf den Kläger diesen zu schützen bereit wäre.