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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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J. Christina Gille


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

e) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK)

      59. Mit Urteil vom 26.6.2001 (4 S 1439/00 - ESVGH 51, 234) entschied der VGH Baden-Württemberg, daß die Einschätzung des Dienstherrn, eine Lehramtsbewerberin sei wegen des von ihr aus religiösen Gründen beabsichtigten Tragens eines Kopftuchs im Unterricht für das angestrebte Amt einer Grund- und Hauptschullehrerin im öffentlichen Schuldienst ungeeignet, sich innerhalb der Grenzen des dem Dienstherrn eingeräumten Beurteilungsspielraums hält und nicht gegen Art. 9 EMRK verstößt.135 Das in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte Grundrecht auf Bekenntnisfreiheit stehe ungeachtet der Art des jeweiligen religiösen Bekenntnisses und unbeschadet des bestehenden öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses auch einem Beamten zu. Das Tragen eines Kopftuches als Ausdruck des muslimischen religiösen Bekenntnisses falle auch in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Werde als Voraussetzung der persönlichen Eignung für den Schuldienst das Nichttragen des Kopftuchs im Unterricht verlangt, stelle dies eine Einschränkung der individuellen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dar, die als Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt Einschränkungen unterliege, wenn sie mit Grundrechten Dritter oder anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern kollidiere. Aus Art. 33 Abs. 5 GG folge generell als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums und für Lehrer an staatlichen Schulen folge speziell aus dem durch Art. 7 Abs. 1 GG begründeten staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag, daß die für die Eignung unerläßlichen Anforderungen des konkreten Amtes die Ausübung der Grundrechte i.R.d. Verhältnismäßigen einschränken könnten. Das Fehlen der Fähigkeit oder Bereitschaft, die sich aus der Rücksicht auf die Grundrechte der Schüler und ihrer Eltern ergebende und den Lehrern als Dienstpflicht obliegende staatliche Neutralitätspflicht hinreichend zu wahren, begründe einen Eignungsmangel. Auch der EGMR habe keine Verletzung von Art. 9 EMRK darin gesehen, daß einer zum Islam konvertierten Schweizer Lehrerin, die im Unterricht ein religiös motiviertes Kopftuch getragen habe, von der Schulverwaltung angeordnet worden war, dieses abzulegen.136 Diesem Fall sei der vorliegende vergleichbar, soweit dem Gebot der religiösen Neutralität der Schule zum Schutz der negativen Bekenntnisfreiheit jüngerer Schüler, insbesondere solcher im Grundschulalter, und ihrer Eltern der Vorrang vor der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin zuerkannt worden sei. Insoweit sei das Ausmaß der Trennung von Staat und Religion unerheblich. Auch bei der in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich vorgegebenen, lediglich "vorsorgenden" religiösen Neutralität des Staates bedeute eine dadurch begründete angemessene Einschränkung der Bekenntnisfreiheit einer Lehrperson im Schulunterricht keine Verletzung von Art. 9 EMRK. Diese Einschränkung könne in einer demokratischen Gesellschaft notwendig werden, um den Respekt und die Interessen aller Anschauungen zum Ausgleich zu bringen.




      135 Siehe auch BVerwG, Urteil vom 4.7.2002 (2 C 21.01 - NJW 2002, 3344).

      136 EGMR, Beschluß vom 15.2.2001 (42393/98, Lucia Dahlab/Schweiz - NJW 2001, 2871).