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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.87/1

Die Unschuldsvermutung verbietet dem Richter, bei Verfahrenseinstellungen vor Schuldspruchreife Schuld festzustellen und zuzuweisen.

The presumption of innocence prohibits a judge from determining and assigning guilt prior to the pronouncement of a guilty verdict.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 26.3.1987 (2 BvR 589/79 u.a.), BVerfGE 74, 358 (s.1111 [87/2])

Einleitung:

      s.1111 [87/2]

Entscheidungsauszüge:

      C. ... I. ...1.a) ... Aus dem Prinzip, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, folgt die Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen, das eine wirksame Sicherung der Grundrechte des Beschuldigten gewährleistet ... Dem Täter müssen deshalb Tat und Schuld nachgewiesen werden ... Bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet ... Die Unschuldsvermutung steht in engem Zusammenhang mit dem Recht des Beschuldigten, den staatlichen Strafanspruch in einem rechtsstaatlichen, fairen Verfahren abzuwehren und sich zu verteidigen. Sie ist die selbstverständliche Folge eines nach Inhalt und Grenzen durch das Gebot der Achtung der Menschenwürde bestimmten, auf dem Schuldgrundsatz aufbauenden materiellen Strafrechts ... Die Unschuldsvermutung erzwingt so ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren zum Beweis des Gegenteils, bevor wegen eines Tatvorwurfes Entscheidungen getroffen werden, die die Feststellung von Schuld erfordern. Sie schützt den Beschuldigten auch vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozeßordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist ... Nach allem verbietet die Unschuldsvermutung zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne gesetzlichen, prozeßordnungsgemäßen - nicht notwendiger Weise rechtskräftigen - Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; zum anderen verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf ...
      Die Unschuldsvermutung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips enthält - wie auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren - keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ...
      Die Unschuldsvermutung verwehrt es den Strafverfolgungsorganen allerdings nicht, verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung eines Beschuldigten zu beurteilen und - im Urteil - Festlegungen zur Schuld des Angeklagten zu treffen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen ...
      Mit der Schuldfrage hat der Strafrichter darüber hinaus auch in verschiedenen Verfahrensstadien umzugehen, wenn er die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit als gegeben erachtet ... Erfolgt eine solche Verfahrenseinstellung, bevor die Hauptverhandlung bis zur Entscheidungsreife zum Schuldspruch durchgeführt worden ist, so fehlt es an der prozeßordnungsgemäßen Grundlage für ein Erkenntnis zur Schuld. Denn das Kernstück des Strafprozesses ist die Hauptverhandlung. In ihr soll der Sachverhalt endgültig aufgeklärt und festgestellt werden; dies hat in einer Weise zu geschehen, die nach allgemeiner Prozeßerfahrung die größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und zugleich für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil bietet ...
      Daraus ergeben sich Folgen für die Auslegung und Handhabung der Vorschriften über die Einstellung eines Verfahrens wegen "geringer Schuld". Erfolgt die Einstellung vor "Schuldspruchreife", also bevor die prozeßordnungsgemäßen Voraussetzungen für das Erkenntnis zur Schuldfrage geschaffen sind, so verbietet die Unschuldsvermutung es dem Richter, Schuld festzustellen und Schuld zuzuweisen. Anderenfalls würden die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Beschuldigten, sich zu verteidigen, verkürzt, und der Zweck der Unschuldsvermutung würde unterlaufen ... [Das Gericht] darf die strafrechtliche Relevanz nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld feststellen; es darf sie lediglich unterstellen ...
      2. ... b) Werden bei der Einstellung des Verfahrens vor Schuldspruchreife dem Beschuldigten die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Privatklägers auferlegt (§471 Abs.3 Nr.2 StPO) und begründet das Gericht dies mit der Schuld des Beschuldigten, so verstößt auch diese Nebenentscheidung wie die Gründe, die sie tragen, gegen die Unschuldsvermutung ... Im Lichte der Besonderheiten des Privatklageverfahrens erhält diese Kostenüberbürdung in ihrer Verbindung mit der in den Beschlußgründen enthaltenen Zuweisung von Schuld sanktions- und strafähnlichen Charakter ...
      Am Sanktionscharakter fehlt es indessen bei der Überbürdung der Verfahrenskosten und der Auslagen des Privatklägers auf den Beschuldigten, wenn das Gericht sie nicht auf Schuldfeststellungen gründet, sondern anderweitige Erwägungen zu ihrer angemessenen Verteilung anstellt. Bei dieser Ermessensentscheidung (§471 Abs.3 StPO) ist es nicht gehindert zu berücksichtigen, inwieweit der Beschuldigte nachvollziehbaren Anlaß zur Erhebung der Privatklage gegeben hat. Dabei darf das Gericht allerdings nur die keiner weiteren Aufklärung bedürftigen Umstände des Sachverhalts zugrunde legen. Nichts anderes gilt für die Entscheidung, ob der Beschuldigte seine eigenen Auslagen zu tragen hat. Die Unschuldsvermutung wird durch solche Entscheidungen, sofern sie sich einer Feststellung zur Schuld enthalten, nicht verletzt ...
      Hat das Gericht hingegen die Hauptverhandlung bis zur Entscheidungsreife in der Schuldfrage geführt und sind verfahrensbezogene Schuldzuweisungen oder -feststellungen in den Gründen der Einstellungsentscheidung mithin von Rechtsstaats wegen nicht zu beanstanden, darf es bei einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des Privatklägers und der Verfahrenskosten auf den Angeklagten (§471 Abs.3 Nrn.2 und 3 StPO) darauf auch abstellen.