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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1881. VORABENTSCHEIDUNGSVERFAHREN

Nr.92/1

[a] Ist die Nichtzulassung der Revision durch das Untergericht mit dem Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar, kann die Vorlagepflicht aus Art.177 Abs.3 EWGV nur bei dem Revisionsgericht eintreten, das über die Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet.

[b] Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde unter Hinweis auf das Gemeinschaftsrecht begründet, ist der Beschluß des Revisionsgerichts, die Revision nicht zuzulassen, an Art.101 Abs.1 Satz 2 GG zu messen. Um eine solche Prüfung zu ermöglichen, müssen die Gründe für die Nichtzulassung hinreichend sicher erkennbar sein.

[a] If the lower court's denial of leave to appeal is subject to an appeal (Nichtzulassungsbeschwerde), the duty to make a reference pursuant to Art.177 (3) of the EEC Treaty will only be incumbent on the appeals court which is competent to decide on the Nichtzulassungsbeschwerde.

[b] If a Nichtzulassungsbeschwerde is based on Community law considerations, the decision of the appeals court not to grant leave to appeal will be subject to review under Art.101 (1) (2) of the Basic Law. To enable such a review, the reasons for denying leave must be identifiable with sufficient certainty.

Bundesverfassungsgericht (3.Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 22.12.1992 (2 BvR 557/88), NVwZ 1993, 883

Einführung:

      Die beschwerdeführende Gesellschaft wandte sich dagegen, daß eine Kapitalerhöhung mit Kapitalverkehrsteuer belegt worden war. Sie berief sich dazu auf Art.4 Abs.3 Buchst.a der Richtlinie Nr.69/335/EWG vom 17.7.1969. Das Finanzgericht hielt die Voraussetzungen dieser gemeinschaftsrechtlichen Befreiungsnorm eindeutig für nicht erfüllt und sah deshalb von der Einholung einer Vorabentscheidung gemäß Art.177 Abs.2 EWG-Vertrag ab. Es ließ die Revision nicht zu. Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde versuchte die Beschwerdeführerin, den Bundesfinanzhof zu einer Vorlage nach Art.177 Abs.3 EWG-Vertrag zu veranlassen. Dieser wies die Nichtzulassungsbeschwerde jedoch als unbegründet zurück, ohne seinen Beschluß zu begründen (Art.1 Nr.6 BFH-Entlastungsgesetz vom 8.7.1975). Gegen diesen BFH-Beschluß richtet sich die Verfassungsbeschwerde, die mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Entscheidungsauszüge:

      Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art.101 Abs.1 Satz 2 GG geltend. Eine solche Verletzung liegt jedoch nicht vor.
      1. Der EuGH ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 [366] ...) ...
      2. In Fällen der zulassungsgebundenen Revision, in denen die Nichtzulassung der Revision durch das Instanzgericht mit dem Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar ist, kann die Vorlagepflicht aus Art.177 Abs.3 EWGV nur bei dem Gericht eintreten, das über die Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet. Die Möglichkeit, daß eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auf die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde aus: In der Nichtzulassungsbeschwerde dargelegte Rechtsfragen aus dem Bereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts betreffen revisibles Bundesrecht im Sinne des §118 Abs.1 Satz 1 FGO (vgl. BFHE 119, 439 [440]). Sie sind bereits dann grundsätzlich im Sinne von §115 Abs.2 Nr.1 FGO und eröffnen damit den Revisionsrechtsweg, wenn sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen (vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren BVerfGE 82, 159 [196] ...). Ein Beschluß des BFH, die Revision nicht zuzulassen, und damit die Entscheidung dieses Gerichts, die an es herangetragene gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem EuGH vorzulegen, ist folglich an den zuletzt im Senatsbeschluß vom 31.5.1990 (BVerfGE 82, 159 [192 ff.] ...) herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art.177 Abs.3 EWGV zu messen. ...
      4. Eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur möglich, wenn ihm die Gründe hinreichend sicher bekannt sind, aus denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht von einer Zulassung der Revision und anschließenden Vorlage an den EuGH nach Art.177 Abs.3 EWGV abgesehen hat. Im vorliegenden Fall sind die Gründe, die den BFH veranlaßt haben, die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unbegründet zurückzuweisen, hinreichend klar, um dem Bundesverfassungsgericht eine Prüfung anhand des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG zu ermöglichen ...
      a) Die Beschwerdeführerin hatte bereits das Finanzgericht zu einer Vorlage der gemeinschaftsrechtlichen Frage an den EuGH bewegen wollen. Das Finanzgericht lehnte dies ... mit ausführlicher Begründung ab. ... In dieser Hinsicht schloß sich das Finanzgericht mehreren zu dieser Frage wortgleichen Urteilen des Bundesfinanzhofs an ... Wenn der BFH vor diesem Hintergrund die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, die erneut auf die EWG-Richtlinie gestützt war, ohne Begründung zurückwies, kann dies nur so verstanden werden, daß er an seine im finanzgerichtlichen Urteil in Bezug genommenen früheren Entscheidungen anknüpfen und an der dort gegebenen Begründung für die Nichtvorlage festhalten wollte. Demnach ist hier hinreichend klar, warum der BFH eine Vorlage an den EuGH nicht für erforderlich hielt.