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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Hans-Konrad Ress


XI. Deutschlands Rechtslage nach 1945 und Deutsche Wiedervereinigung

      Auf die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Restitutionsausschluß bei besatzungshoheitlichen Enteignungen [15, 16], auf das Urteil des BAG zur Kündigung eines SED-Parteisekretärs [9] sowie auf das Urteil des BGH zu Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR [86] wird hingewiesen.

      114. Nach Nr. 1 Abs. 1 des Protokolls zum Einigungsvertrag wird die Grenze des Landes Berlin grundsätzlich bestimmt durch das (Preußische) Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin vom 27.4.1920 (Pr.GS 1920, 123). Um jedoch Gebietsänderungen aufgrund von Akten der Besatzungsmächte Rechnung zu tragen, gelten alle Gebiete, in denen nach dem 7.10.1949 eine Wahl zum Abgeordnetenhaus oder zur Stadtverordnetenversammlung von Berlin stattgefunden hat, als Bestandteile der Bezirke von Berlin. Der ehemalige Landkreis Potsdam und die Gemeinden Groß-Glienicke und Seeburg erhoben Verfassungsbeschwerde gegen diese Regelung des Einigungsvertrages in bezug auf die Festlegung der Grenze des Landes Berlin im Bereich des Flughafens Gatow und der Weinmeisterhöhe. Das Bundesverfassungsgericht nahm die auf eine Verletzung von Art. 28 Abs. 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Zwar seien die betroffenen Gebietskörperschaften von Verfassungs wegen vor Durchführung einer Gebietsänderung anzuhören, die Beschwerdeführer könnten sich jedoch auf diese verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht berufen. Die Regelung des Einigungsvertrages bewirke nämlich im Hinblick auf die streitigen Gebiete keine Änderung der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Einigungsvertrages bestehenden Gemeinde- und Kreisgrenzen. Da sich die Gebietshoheit der Kommunen vom jeweiligen Bundesland ableite, könne das Gemeindegebiet folglich Staatsgrenzen nicht überschreiten. Die Grenzen der (alten) Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) folgten den von den Besatzungsmächten zwischen den Besatzungszonen gezogenen Demarkationslinien und seien dadurch für kommunale Gebietskörperschaften unüberwindlich geworden. Das Bundesverfassungsgericht verwies in diesem Zusammenhang auf sein schon früh ergangenes Urteil im Lippischen Schulstreit106, in dem es entschieden hatte, daß die Länder mit dem Gebietsbestand entstanden seien, der sich faktisch aus den Maßnahmen der Besatzungsmächte kraft ihrer "obersten Gewalt" in Deutschland ergeben habe.

      Das in der 4. Sitzung des Alliierten Kontrollrats vom 30.8.1945 bestätigte Tauschabkommen zwischen Großbritannien und der Sowjetunion habe zur Folge gehabt, daß (West-)Berlin unter Einschluß der hier umstrittenen Gebiete im Bereich des Flughafens Gatow und der Weinmeisterhöhe in den Geltungsbereich des GG getreten sei. Gehörten diese Gebiete aber zu (West-)Berlin, so hätten sie nicht zugleich zum Staatsgebiet der DDR gehören können.

      Die auf besatzungsrechtliche Maßnahmen zurückgehende Reduzierung des Gebietsstands der Beschwerdeführer sei auch durch nachfolgende Maßnahmen und Ereignisse nicht berührt worden. Die alte, dem Preußischen Gesetz vom 27.4.1920 folgende, Grenzziehung sei weder mit der Aussetzung der Viermächte-Verantwortlichkeit in bezug auf Berlin107 noch mit der Beendigung der Rechte der Viermächte gemäß Art. 7 Abs. 1 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland108 ipso iure wieder aufgelebt. Das Besatzungsrecht habe die Rechtslage insoweit nicht lediglich überlagert, so daß mit seiner Suspendierung die nach dem vorherigen Rechtszustand bestehenden Grenzregelungen wieder anwendbar seien. Vielmehr habe sich die deutsche Staatlichkeit in ihrer territorialen Ausprägung, ausgehend von besatzungsrechtlichen Maßnahmen in bezug auf die innerdeutschen Staatsgrenzen, neu und damit selbständig reorganisiert.

      115. Der BGH hatte sich in seinem Urteil vom 8.12.1994 (III ZR 105/93 - DtZ 1995, 201 = VIZ 1995, 361 = MDR 1995, 480 = NJW 1995, 1957 [Ls.]) mit der Frage zu beschäftigen, ob die Bundesrepublik für "Altschäden sowjetischer Streitkräfte" haftet. Das Bundesvermögensamt hatte der Klägerin im Dezember 1990 zwei Liegenschaften übergeben, die von der Westgruppe der Streitkräfte der ehemaligen Sowjetunion genutzt worden waren. Der BGH wies letztinstanzlich eine von der Klägerin erhobene Klage auf Entschädigung wegen der von den sowjetischen Truppen an den Liegenschaften verursachten Schäden ab. Der Aufenthalts- und Abzugsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR vom 12.10.1990 in Verbindung mit dem Ausführungsgesetz begründe keine Ansprüche wegen der sogenannten Altschäden. Der Vertrag habe eine Grundlage lediglich für Rechte und Pflichten während der Übergangszeit seit dem 3.10.1990 bis zu dem geplanten vollständigen Abzug der Truppen geben und Ansprüche für die zurückliegende Zeit nicht begründen wollen.

      Inwieweit den geschädigten Bürgern der DDR aufgrund der zwischen der DDR und der UdSSR geschlossenen Abkommen, wie dem Stationierungsabkommen vom 12.3.1957, Ansprüche gegen die DDR erwachsen sein können, bedurfte nach Ansicht des BGH keiner Entscheidung. Der Klägerin stehe ein Anspruch gegen die beklagte Bundesrepublik jedenfalls nicht zu, weil diese für eine derartige Verpflichtung der ehemaligen DDR nicht eintreten müsse. Die DDR sei als Rechtssubjekt, um dessen unmittelbare Verpflichtungen es hier gehe, mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages untergegangen. Eine Gesamt- oder Einzelrechtsnachfolge für etwaige Verbindlichkeiten aufgrund der Stationierungsabkommen und Verteidigungsgesetze109 sei nicht angeordnet worden. Auch aus den Bestimmungen des Einigungsvertrages sei eine Haftung der beklagten Bundesrepublik nicht herzuleiten, da sie nicht Inhaberin von Vermögen geworden sei, auf dem eine Haftungsverbindlichkeit in bezug auf die Ansprüche der Klägerin laste. Die Klägerin und nicht die beklagte Bundesrepublik habe nach dem Einigungsvertrag Eigentum an den Liegenschaften erworben, an denen die behaupteten Stationierungsschäden entstanden seien.

      116. Gegenstand eines Urteils des BGH vom 6.10.1994 (4 StR 23/94 - BGHSt 40, 272 = NJW 1995, 64 = NStZ 1995, 31 = NJ 1994, 583 = MDR 1995, 186 = DtZ 1995, 148 [Ls.] = JR 1995, 211, siehe auch Anm. O. Hohmann, NJ 1995, 128) war die Frage, inwieweit sich Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR bei Anwendung des § 214 DDR-StGB110 der Rechtsbeugung nach § 244 DDR-StGB schuldig gemacht haben. Ein DDR-Bürger hatte durch das Entrollen eines selbstgefertigten Plakats mit dem Text, "DDR! Deine Grenzen sind für mich kein Friedensbeitrag!", vor einem öffentlichen Gebäude seine Festnahme und Verurteilung wegen Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit gemäß § 214 DDR-StGB provoziert, um einen Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland zu bewirken. Das Landgericht hatte die an dem Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung verurteilt. Der BGH hob das Urteil des LG auf, da die Rechtsanwendung durch die Angeklagten in dem Strafverfahren gegen den verurteilten DDR-Bürger zwar rechtsstaatlichen Anforderungen nicht standhalte, jedoch weder gegen überpositives Recht noch gegen materielles oder formelles Recht verstoßen habe. Die Geltungskraft und Reichweite von Strafvorschriften der DDR, aus denen sich für Richter und Staatsanwälte die Rechtfertigung für Eingriffe in Rechte der Bürger herleiteten, könnten nicht an Maßstäben eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats gemessen werden, da sonst einer Vielzahl nach dem Recht der DDR gesetzmäßiger Entscheidungen nachträglich die rechtliche Grundlage entzogen werde. Derartige Entscheidungen als Rechtsbeugung zu werten, widerspräche dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Eine offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzung, die eine andere Beurteilung rechtfertigte, sei weder in der Ausreisegesetzgebung der DDR als solcher noch in einer Pönalisierung öffentlicher Kritik an jener Gesetzgebung zu erblicken.

      Etwas anderes könne freilich im Einzelfall gelten, wenn bei der Anwendung von § 214 DDR-StGB auf Meinungsäußerungen mit Bezug auf die Ausreisefreiheit die Grenzen zulässiger Auslegung augenfällig überschritten werde oder die verhängte Strafe in unerträglichem Mißverhältnis zu der Tat stehe. Dies sei jedoch angesichts der Rechtswirklichkeit der DDR nicht der Fall.

      Zur Rechtsbeugung durch DDR-Staatsanwälte vergleiche auch das Urteil des BGH vom 9.5.1994 (5 StR 354/93 - BGHSt 40, 169 = NStZ 1994, 437 = NJW 1994, 3238 = NJ 1994, 422).

      117. Der BGH befaßte sich schließlich in dem Urteil vom 26.7.1994 (5 StR 98/94 - BGHSt 40, 218 = NJW 1994, 2703 = JR 1995, 205 = MDR 1994, 1027 = NStZ 1994, 586 mit Anm. G. Jakobs = NStZ 1995, 26 = JZ 1995, 45 mit Anm. Roxin) mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen an der "Mauer" durch die Detonation von Minen sowie durch Schüsse von Grenzsoldaten in der Zeit vom April 1971 bis Februar 1989. Das Landgericht hatte wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum Totschlag verurteilt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft änderte der BGH den Schuldspruch ab und verurteilte wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft. Unter Bezugnahme auf sein sogenanntes erstes Mauerschützen-Urteil vom 3.11.1992111 bestätigte der BGH die vom LG vorgenommene rechtliche Bewertung, daß sich die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten wegen vollendeten Totschlags strafbar gemacht hätten, als sie die Minen und Selbstschußanlagen installierten und auf Flüchtlinge schossen. Trotz dieser uneingeschränkten strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Grenzsoldaten bejahte der BGH die Täterschaft der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Die Angeklagten seien als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates Angehörige eines Gremiums gewesen, dessen Entscheidungen zwingende Voraussetzungen für die grundlegenden Befehle gewesen seien, auf denen das Grenzregime der DDR beruht habe. Es sei ihnen bewußt gewesen, daß die auf den Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrates beruhenden Befehle ausgeführt würden. Die Meldungen über die Opfer der Grenzverminung und des Schußbefehls hätten ihnen vorgelegen. Aufgrund dieser Umstände hätten die Angeklagten unmittelbar die Verantwortung für das Geschehen an der Grenze getragen und seien mittelbare Täter.



      106 BVerfGE 4, 250.
      107 Wortlaut der sogenannten Suspendierungserklärung in BGBl. 1990 II, 1331.
      108 Sogenannter Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12.9.1990 (BGBl. II, 1318).
      109 Gesetz zur Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Verteidigungsgesetz) vom 20.9.1991 (GBl. I, 175) und Gesetz über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Verteidigungsgesetz) vom 13.10.1978 (GBl. I, 377).
      110 § 214 DDR-StGB: (1) Wer die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohung beeinträchtigt oder in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Mißachtung der Grenze bekundet oder zur Mißachtung der Grenze auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.
      111 BGHSt 39, 1 = NJW 1993, 141, siehe hierzu Rädler (Anm. 1), 489.