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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Volker Röben


XII. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

a) Todesstrafe (Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK, 4. Zusatzprotokoll)

       62. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Richter der DDR wegen Rechtsbeugung (§§ 336 StGB, 244 StGB-DDR) verfolgt werden.1 Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16.11.1995 (5 StR 747/94 - BGHSt 41, 317=NJW 1996, 857) betraf die Beteiligung des Angeklagten als Berichterstatter bzw. beisitzender Richter an der Verhängung mehrerer Todesurteile.2 Der Bundesgerichtshof stellte fest, daß Verfolgungshindernisse nicht bestünden. Die Bestrafung sei weder durch in der DDR erlassene Amnestien noch durch Verfolgungsverjährung ausgeschlossen. Auch für die in diesem Fall zu beurteilenden Fälle der Anwendung politischen Strafrechts durch den Ia Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR habe die Verjährung in der DDR aufgrund eines quasi-gesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht, so daß Verfolgungsverjährung nach Art. 315a EGStGB ausgeschlossen sei. Zu den Grundlagen der Strafbarkeit führte das Gericht sodann folgendes aus: Für die Feststellung einer durch Willkür gekennzeichneten offensichtlichen schweren Menschenrechtsverletzung habe der Senat namentlich drei Fallgruppen als mögliche Rechtsbeugungstatbestände aufgezeigt: Fälle, in denen Straftatbestände überdehnt worden seien, Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der abgeurteilten Handlung gestanden habe sowie schwere Menschenrechtsverletzung durch die Art und Weise des Verfahrens. Hier liege Rechtsbeugung in der Form grausamen und überharten Strafens vor. Die bloße Verhängung der Todesstrafe könne dieses Unwerturteil allerdings nicht tragen. Insoweit stelle die speziell in Art. 102 GG zum Ausdruck kommende Wertentscheidung des GG keinen Maßstab dar, an dem die Handlungen des Angeklagten gemessen werden könnten. Zwar begegne die Todesstrafe aus heutiger Sicht unüberwindlichen Bedenken. Nach deutschem Verfassungsrecht könne eine Wiedereinführung der Todesstrafe auch abgesehen von Art. 102 GG vor Art. 1 Abs. 1 GG und der Wesensgehaltgarantie des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 2 GG) keinen Bestand haben. Für den zur Aburteilung stehenden Fall sei aber zu beachten, daß die Todesstrafe in der Nachkriegszeit in den sog. sozialistischen Staaten in erheblichem Umfang angewendet worden sei. Nach Ansicht des Senats kommt auch die für das deutsche Verfassungsrecht dargelegte Mißbilligung der Todesstrafe im Völkerrecht der Nachkriegszeit nur mit geringerer Deutlichkeit zum Ausdruck. Art. 2 Abs. 1 Satz 2 der vor dem Tatzeitraum vereinbarten EMRK gehe von der Zulässigkeit der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden sei, aus. Erst durch das 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.19833 sei die Todesstrafe für die Mitgliedstaaten des Europarates grundsätzlich abgeschafft worden und ihre ausnahmsweise Zulässigkeit auf Kriegszeiten und Zeiten unmittelbarer Kriegsgefahr beschränkt worden. Der nach der Tatzeit beschlossene IPBPR sei in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ebenfalls von der Zulässigkeit der Todesstrafe ausgegangen. Er bestimme allerdings, daß ein Todesurteil nur für schwerste Verbrechen verhängt werden dürfe. Bemühungen um die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe in aller Welt, namentlich durch das Zweite Fakultativprotokoll vom 15.12.1989 zum IPBPR dauerten, da viele Staaten immer noch an dieser Sanktion festhalten wollten, bis in die Gegenwart an. Wenn demnach die Todesstrafe für sich genommen auch, gemessen am Maßstab unerträglicher Menschenrechtsverletzung, zur Tatzeit nicht als schlechthin unzulässige Reaktion auf eine Straftat zu werten sein möge, unterliegt es nach Ansicht des Senats keinem Zweifel, daß ein so irreparabler fundamentaler Eingriff in das Rechtsgut Leben, wie ihn die Anordnung und Vollstreckung dieser Rechtsfolge bedeute, nach diesem Maßstab nur in aufs engste begrenzten Ausnahmefällen hinnehmbar sei. Jede gerichtlich verhängte Strafe könne vor dem Willkürverbot nur dann Bestand haben, wenn sie in einer noch angemessenen Relation zum begangenen Unrecht bleibe. Der Senat betonte, daß die strafrechtliche Bewertung der Tätigkeit von DDR-Justizangehörigen unter strikter Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien, die für das Strafrecht entwickelt worden seien und seiner Anwendung Grenzen setzten, vorzunehmen sei. Das Recht der DDR dürfe mit Rücksicht auf das Prinzip des Vertrauensschutzes, auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht nach einer am Grundgesetz orientierten Auslegung interpretiert werden. Sonst würde das Handeln des Täters an ihm fremden Maßstäben, nämlich denen eines Rechtsstaates und seiner Wertordnung, gemessen werden. Maßgeblich für die Betrachtung, ob ein unerträglicher Willkürakt vorliege, müßten vielmehr die in der DDR herrschenden Wertvorstellungen im Tatzeitraum sein. Besonders sei dabei die zeitgebundene Wandlung im Verständnis von Strafe und Strafrechtsfunktion zu berücksichtigen. So sei der Tatzeitraum in den Jahren 1955/1956 maßgeblich gekennzeichnet als Periode des Kalten Krieges. Das Schwurgericht habe seiner Entscheidung rechtsfehlerfrei zugrunde gelegt, daß von den Westsektoren Berlins ausgehend zahlreiche Geheimdienste in der DDR und in den Ostblockstaaten tätig geworden seien und daß eine äußerst angespannte politische Lage geherrscht habe, in der des öfteren der Ausbruch eines Dritten, möglicherweise atomaren Weltkrieges zu befürchten gewesen sei. Eine solche durch entsprechende Staatspropaganda vermittelte und in weiten Bevölkerungskreisen als krisenhaft empfundene Situation habe auch an der Rechtsprechung nicht spurenlos vorübergehen können. Insoweit sei in dieser Zeit - auf beiden Seiten - eine politische Justiz mit einer aus heutiger Sicht nicht immer nachvollziehbaren Intensität betrieben worden. Die Konfrontation von Ost und West und die ideologische Konkurrenz der Machtblöcke hätten gerade die in der DDR ohnehin instrumentalisierte Justiz weiter belastet. Vor diesem Hintergrund seien in der DDR auch Todesurteile als Mittel des Klassenkampfes für notwendig gehalten worden. Hinzu komme, daß die Strafpraxis in der DDR im Tatzeitraum wesentlich härter als in der Bundesrepublik gewesen sei. Dies lege nahe, die Todesstrafe nicht schon deshalb als überhöht anzusehen, weil ihre Verhängung aus späterer Sicht nicht mehr nachvollziehbar erscheine. Andererseits muß nach Ansicht des Senats in diesem Zusammenhang die überragende Bedeutung des menschlichen Lebens Beachtung finden. Sie könne dazu führen, daß Tatzeitrecht, welches vorsätzliche Tötungen gestatte, im Blick auf vorrangige übergesetzliche Grundsätze und völkerrechtliche Normen als unwirksam zu verwerfen sei und daß militärische Befehle, die sonst als unbedingt verbindlich anzusehen wären, dann, wenn sie auf vorsätzliche Tötung gerichtet seien, als unbeachtlich gelten müßten. Eine besonders kritische Überprüfung von Todesurteilen sei insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der NS-Diktatur notwendig. Das menschenverachtende nationalsozialistische Regime sei durch willfährige Richter und Staatsanwälte gestützt worden, die das Recht pervertiert hätten. Die Grausamkeit, die das Bild der NS-Zeit präge, habe in einem beispiellosen Mißbrauch der Todesstrafe gegipfelt. Diese Erfahrungen hätten in der Bundesrepublik zur Abschaffung der Todesstrafe geführt. Zwar habe die DDR die Todesstrafe beibehalten. Sie habe sich jedoch gerade zur Abkehr von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekannt. Die DDR-Justiz sei daher - auch unter den Bedingungen des Kalten Krieges - in besonderem Maße gehalten gewesen, die von der Rechtsordnung vorgesehene Todesstrafe, zumal im Bereiche des politisch motivierten Strafrechts, auf Fälle schwersten Unrechts einzuschränken. Namentlich habe diese äußerste Sanktion nicht angeordnet werden dürfen, wenn durch eine zu ahndende Straftat kein gravierender Schaden verursacht worden sei. Die historische Erfahrung erklärt nach Ansicht des Senats, daß, wie er nicht verkenne, die Maßstäbe, wie sie in der Bundesrepublik bei der Beurteilung von NS-Justizunrecht angewendet worden seien, weit weniger streng gewesen seien. Die Erkenntnis, daß eine Todesstrafe nur dann nicht als rechtsbeugerisch anzusehen sei, wenn sie der Bestrafung schwersten Unrechts dienen sollte, hätte in einer Vielzahl von Fällen zur Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten des nationalsozialistischen Regimes führen müssen. Derartige Verurteilungen gebe es trotz des tausendfachen Mißbrauchs der Todesstrafe, namentlich in den Jahren 1943 bis 1945 nur in sehr geringer Zahl. Der Bundesgerichtshof führte dann näher aus, warum die vom Obersten Gericht festgestellten Sachverhalte in keinem Fall auch nur annähernd die verhängten Sanktionen gerechtfertigt hätten. Für die in die äußere Form von Gerichtsurteilen gekleideten Tötungsverbrechen sei der Angeklagte mitverantwortlich. Ob sich in einem Kollegialgericht ein Richter nur dann der Rechtsbeugung schuldig mache, wenn er für die von ihm als Unrecht erkannte Entscheidung stimme, bedürfe keiner abschließenden Entscheidung. Ein solches Abstimmungsverhalten des Angeklagten sei hier jedenfalls festgestellt und die innere Distanzierung des Angeklagten unerheblich.



      1 S. zur Verurteilung von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung bereits Ress (Anm. 1), 588 f.

      2 S. auch BGH, Urteil vom 15.9.1995 (5 StR 713/94 - BGHSt 41, 247), zur Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte der DDR bei der Anwendung "politischen Strafrechts".

      3 BGBl. 1988 II, 663.