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2001


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J. Christina Gille


XIII. Deutschlands Rechtslage nach 1945 und deutsche Wiedervereinigung

2. Wiedervereinigung

b) Strafrecht

      89. In Fortführung zu BGHSt 40, 218247 entschied der BGH in einem Urteil vom 26.4.2001 (4 StR 30/01 - Neue Justiz 2001, 552), daß die Staatspraxis der DDR, die die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen durch Schußwaffen, Selbstschußanlagen oder Minen zur Vermeidung einer Flucht aus der DDR in Kauf nahm, wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte nicht geeignet war, die Täter zu rechtfertigen, und daß wegen der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit ein Schuldausschluß ausscheidet, wenn nicht im Einzelfall ganz besondere Umstände gegen eine Erkennbarkeit des Strafrechtsverstoßes für den Täter sprechen.248 Dies gelte in besonderem Maße für den Einsatz von Splitterminen zur bloßen Durchsetzung des Verbots, die innerdeutsche Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten. Der regelmäßig verheerend wirkende unkontrollierbare Einsatz solcher blinder Tötungsautomaten sei eklatant menschenrechtswidrig. Wegen der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit scheide ein Schuldausschluß aus, wenn nicht im Einzelfall ganz besondere Umstände gegen eine Erkennbarkeit des Strafrechtsverstoßes für den Täter sprechen würden. Fehlende Einsichtsfähigkeit in das Unrecht könne nicht aus der "doktrinären Einbindung in die - alle gesellschaftlichen Bereiche beherrschende - Ideologie der führenden Partei" geschlossen werden. Diese stelle für Straftaten der vorliegenden Art keine Besonderheit, sondern den Regelfall dar. Bei dieser Sachlage, in der auch für einen indoktrinierten Menschen der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot augenfällig gewesen sei, bedürfe es besonderer Begründung, warum durch Nachdenken keine Unrechtseinsicht habe erlangt werden können. Weiterhin müsse der Einsatz von Erdminen, die in aller Regel bei den Opfern zu schwersten Verletzungen und Verletzungsfolgen führten, zur bloßen Durchsetzung des Verbots, die innerdeutsche Grenze in Richtung auf das Staatsgebiet der DDR ohne die hierfür erforderliche Erlaubnis zu überschreiten, ebenfalls - auch bei bloßem Verletzungsvorsatz - als rechtswidrig qualifiziert werden. Dem richtig ausgelegten Recht der DDR könne ein Rechtfertigungsgrund hierfür nicht entnommen werden. Insoweit gelte, daß der regelmäßig verheerend wirkende und nicht kontrollierbare Einsatz von Minen an der innerdeutschen Grenze von vornherein eklatant menschenrechtswidrig gewesen sei.

      90. Der BGH klärte mit Beschluß vom 7.8.2001 (5 StR 259/01 - NJW 2001, 3060) die rechtliche Einordnung des Tatbeitrags der Vergatterung von Soldaten an der innerdeutschen Grenze vor befehlsgemäßem tödlichen Schußwaffengebrauch gegen einen unbewaffneten Flüchtling als Beihilfe zum Totschlag. Wer an der Durchsetzung des Grenzregimes der DDR mit der darin enthaltenen offensichtlich menschenrechtswidrigen Anweisung zu notfalls tötlichem Schußwaffengebrauch durch verantwortliche Gestaltung der maßgeblichen Befehle mitgewirkt habe, sei für den tödlichen Schußwaffengebrauch nach dem regelmäßig milderen Recht der Bundesrepublik Deutschland als mittelbarer Täter, nach dem Recht der DDR als Anstifter verantwortlich. Der Vorgesetzte in der Grenzkompanie, der die einzelnen Soldaten zum Wachdienst an der Grenze eingeteilt und dabei vergattert habe, habe allerdings seinerseits entsprechend befehlsgebunden nach strikten inhaltlichen Vorgaben gehandelt. Zwar habe er mit seinem Verhalten für den Fall eines anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauchs den konkreten Einsatz des dabei unmittelbar tätig gewordenen Soldaten verursacht, jedoch sei die Befehlslage den Soldaten im Rahmen ihrer Ausbildung vorgegeben und durch die Vergatterung lediglich aktualisiert worden. Der Vergatterer habe keinen inhaltlichen Spielraum gehabt. Infolge der vorgesetzten Stellung eines Vergatterers und gegebenenfalls der konkreten Einsatzorganisation könne der Tatbeitrag zwar an der Grenze zur mittelbaren Täterschaft bzw. Anstiftung stehen. Dem stünden aber die eigene Befehlseinbindung des Vergatterers mit strikten inhaltlichen Vorgaben und die zuvor erfolgte generelle Befehlserteilung an die eingesetzten Soldaten gegenüber, deren Tatentschluß für den Fall der später tatsächlich eingetretenen Fluchtsituation damit nicht erst durch die Vergatterung erweckt worden sei, sondern für den Fall der Bereitschaft der Soldaten zu unbedingter Befehlserfüllung bereits latent vorhanden und zuvor festgelegt gewesen sei. Danach sei der in der Vergatterung liegende Tatbeitrag lediglich als Beihilfe zum Totschlag zu werten. Soweit mit der Vergatterung oder ihrer Veranlassung in Befolgung und Förderung der allgemeinen Befehlslage die unmittelbaren Täter in ihrem zuvor bereits anderweitig geweckten Tatentschluß letztlich lediglich maßgeblich bestärkt worden seien, könne sich bei einer solchen Befehlseinbindung des Vergatterers auch aus Sondernormen des Militärstrafrechts nichts anderes ergeben. Die rechtliche Einordnung des Tatbeitrags der Vergatterung als Beihilfe habe die Konsequenz, daß Fälle der Vergatterung ohne anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauch nicht nach Vorschriften über versuchte Anstiftung oder nach wehrstrafrechtlichen Spezialnormen strafbar seien.




      247 BGH, Urteil vom 26.7.1994 (5 StR 98/94 - NJW 1994, 2703).

      248 Zur fehlenden Strafbarkeit allein der Mitwirkung bei der Erstellung der Befehle zur Grenzsicherung der früheren DDR als Beihilfe zu der an der Grenze erfolgten Tötung und Verletzung von Personen durch die dort verlegten Minen siehe BGH, Urteil vom 8.3 2001 (4 StR 453/00 - NJW 2001, 2409).