Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


810. EINREISE UND AUFENTHALT

Nr.93/1

[a] Einem Griechen, der in Deutschland zum Zeitpunkt des griechischen EWG-Beitritts bereits arbeitslos war und keine Aussicht hat, eine neue Arbeitsstelle zu finden, steht kraft Gemeinschaftsrechts kein Aufenthaltsrecht zu.

[b] Art.8 EMRK vermittelt Ausländern insoweit einen über Art.6 Abs.1 GG hinausgehenden Schutz gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis, als er hinreichend intensive Familienbande zwischen nahen Verwandten auch außerhalb des Eltern-Kind-Verhältnisses genügen läßt. Allerdings ist eine solche Versagung nach Maßgabe des Art.8 Abs.2 EMRK gerechtfertigt, wenn Ausländer auf Dauer sozialhilfeabhängig sind.

[c] Das Übereinkommen Nr.97 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 1.7.1949 über Wanderarbeiter und das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 schützen Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, unter bestimmten Voraussetzungen vor einer Zurückbeförderung in ihren Heimatstaat, beschränken jedoch nicht die Gründe, aus denen der Aufenthaltsstaat die Verlängerung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis versagen darf.

[a] A Greek who was already unemployed in Germany at the time of the Greek accession to the European Economic Community and who has no chance of finding a new job gains no right of residence by virtue of Community Law.

[b] Art.8 of the European Convention on Human Rights goes further than Art.6 (1) of the Basic Law in protecting aliens from the refusal of a residence permit in that it requires no more than sufficiently strong family ties between close relatives even outside a parent-child-relationship. Such a refusal is, however, justified under Art.8 (2) of the European Convention on Human Rights if aliens are permanently dependent on social security.

[c] The Convention No.97 of the International Labour Organization of 1 July 1949 concerning Migration for Employment and the European Convention on Social and Medical Assistance of 11 December 1953 protect aliens on certain conditions from being returned to their home country but do not limit the reasons for which the state of residence may refuse the extension of a limited-term residence permit.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29.7.1993 (1 C 25.93) BVerwGE 94, 35 (ZaöRV 55 [1995], 868).

Einleitung:

      Der Kläger, ein griechischer Staatsangehöriger, hatte viele Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet, war aber zum Zeitpunkt des griechischen Beitritts zu den Europäischen Gemeinschaften am 1.1.1981 bereits arbeitslos. Er lebt ausschließlich von Sozialhilfe und hat auch in Zukunft keine Aussicht, eine Arbeitsstelle zu finden. Seine Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis blieb, nachdem das Bundesverwaltungsgericht eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt hatte (Urteil vom 26.5.1993 - Rs.C-171/91 - NVwZ 1993, 765), auch in der Revisionsinstanz erfolglos.

Entscheidungsauszüge:

      1. Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Erteilung oder Verlängerung einer von ihm in erster Linie erstrebten Aufenthaltserlaubnis-EG, da ihm kein Aufenthaltsrecht nach Gemeinschaftsrecht zusteht.
      a) Nach §3 Abs.1, §7a Abs.1 AufenthG/EWG kann Arbeitnehmern im Sinne des §1 Abs.1 Nr.1 AufenthG/EWG eine Aufenthaltserlaubnis-EG nur erteilt werden, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen. ... Im Falle unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommt zwar nach Maßgabe des §3 Abs.3 Satz 2 und 3 AufenthG/EWG eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Betracht. Die Anwendung dieser Bestimmung ... setzt aber ebenso wie das Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art.48 Abs.3 Buchst.c EWG-Vertrag und Art.7 der Richtlinie 68/360/EWG vom 15. Oktober 1968 (Abl. L257, S.13) voraus, daß der Arbeitnehmer zuvor in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit als Arbeitnehmer im Aufnahmestaat beschäftigt war. Auch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Griechenland und die Anpassung der Verträge vom 28. Mai 1979 (BGBl. 1980 II S.229, 235/1981 II S.15) sieht keine Gleichstellung der Beschäftigung vor, die ein Staatsangehöriger Griechenlands vor dessen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in dem Aufnahmestaat ausgeübt hat ... Griechenland ist der Gemeinschaft am 1.Januar 1981 beigetreten. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger bereits arbeitslos.
      b) Dem Kläger steht als Arbeitssuchendem kein Aufenthaltsrecht mehr zu, auf das er, sofern ein Aufenthalt zu diesem Zweck nach §8 AufenthG/EWG nicht ohnehin erlaubnisfrei gestattet ist, seinen Anspruch stützen könnte. Das in Art.48 Abs.3 Buchst.a EWG-Vertrag gewährleistete Recht, "sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben" ..., besteht nur für einen angemessenen Zeitraum. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften begrenzt diesen Zeitraum auf sechs Monate, sofern der Betroffene nicht noch nach Ablauf dieses Zeitraums nachweist, daß er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht ... Aufgrund [der vorliegenden Fallumstände] hat der Gerichtshof [in der oben zitierten Vorabentscheidung] ein Aufenhaltsrecht zu Zwecken der Arbeitssuche verneint ... .
      2. Dem Kläger steht auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Ausländergesetz zu. Andererseits muß ihm diese nicht bereits von Rechts wegen versagt werden. ...
      d) Auch wenn die Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen ist, muß die Revision des Klägers erfolglos bleiben, weil die Entscheidung über die Versagung der Aufenthaltserlaubnis nicht rechtswidrig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§113 Abs.1 Satz 1 VwGO).
      aa) Die Behörde hat Ermessen ausgeübt. ... Die ... angestellten Ermessenserwägungen halten rechtlicher Nachprüfung stand. ...
      cc) ... Zu Lasten des Klägers fällt ins Gewicht, daß sein Sozialhilfebezug bereits seit 1981 andauert ...und eine Änderung dieses Umstandes nach Lage der Dinge nicht mehr zu erwarten ist. Mit Rücksicht auf seinen schlechten Gesundheitszustand und die Unterbringung des Klägers in einem Hotel ist auch davon auszugehen, daß besondere Unterbringungs- und Krankheitskosten anfallen und der Kläger daher in nicht geringem Maße auf Sozialhilfe angewiesen ist ... Das aus seinem Alter herzuleitende gesteigerte Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet wird dadurch relativiert, daß er ... bis zum 24.Lebensjahr die ihn prägenden Jahre der Schul- und Berufsausbildung in Griechenland verbracht hat, daher mit den dort herrschenden Verhältnissen noch hinreichend vertraut ist und keine sprachlichen Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat zu erwarten hat. ... Dem mittlerweile 56jährigen, in seiner Gesundheit beeinträchtigten Kläger wird zwar der Aufbau einer beruflichen Existenz in Griechenland kaum möglich sein, nachdem ihm dies in Deutschland seit 15 Jahren nicht gelungen ist. ... Eine soziale Existenz wird der Kläger aber auch in seinem Heimatstaat finden können, weil er im Falle einer Aufenthaltsbeendigung nicht in eine völlig fremde Umgebung, sondern in seinen Heimatstaat zurückkehren kann.
      dd) Familiäre Beziehungen des Klägers in Deutschland stehen der Versagung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts leben Geschwister des Klägers in Deutschland. Ein aus seiner geschiedenen Ehe hervorgegangener inzwischen volljähriger Sohn ist vom Ehemann seiner früheren [deutschen] Ehefrau adoptiert worden.
      Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.1 GG bezieht sich nur auf das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren Kindern ..., nicht auf die in Deutschland lebenden Geschwister des Klägers. Sein Verwandtschaftsverhältnis mit seinem leiblichen Sohn ist nach dessen Adoption durch den Ehemann seiner früheren Ehefrau gemäß §1755 Abs.1 BGB erloschen.
      Der in Art.8 Abs.1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S.686, 953/1954 II S.14) - MRK - gewährleistete Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar erfaßt dieser Anspruch das Familienleben zwischen nahen Verwandten ... und damit auch zwischen Geschwistern ... Er reicht insoweit über den durch Art.6 Abs.1 GG geschhützten Personenkreis hinaus ... Andererseits verlangt diese Bestimmung aber "ein wirkliches Familienleben", was eine gewisse Intensität der Familienbande voraussetzt (EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 - InfAuslR 1991, 149, Nr.35 ...), die im vorliegenden Fall im Verhältnis des Klägers zu seinen Geschwistern zweifelhaft sein mag, im Verhältnis zu seinem leiblichen Sohn vom Berufungsgericht dagegen ungeachtet seiner Adoption durch den Ehemann seiner früheren Ehefrau unterstellt worden ist. Jedenfalls darf gemäß Art.8 Abs.2 MRK in den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens dann eingegriffen werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft u.a. für die öffentliche Ordnung oder für das wirtschaftliche Wohl des Landes notwendig ist, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere in bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist (EGMR, Urteil vom 25. Februar 1988 - 2/1987/125/176 - EuGRZ 1988, 591 [598] Nr.67 ...). Die im Ausländergesetz eröffnete Möglichkeit der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis wegen Sozialhilfebezugs auf nicht absehbare Zeit erfüllt die Voraussetzungen für den Eingriff ... Sie ist auch aus den vorstehend genannten Gründen verhältnismäßig. Von dem dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. Februar 1991 aaO zugrundeliegenden Fall unterscheidet sich der vorliegende schon dadurch, daß der Kläger nicht bereits als Kleinkind nach Deutschland kam, die Sprache seines Heimatstaates beherrscht und vor allem in Deutschland nicht mit Familienangehörigen aus seinem Heimatstaat zusammenlebt. ...
      ee) Völkerrechtliche Bestimmungen führen ebenfalls nicht zu einem abweichenden Ergebnis:
      (1) Der Versagung der Aufenthaltserlaubnis steht nicht das Übereinkommen Nr.97 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 1. Juli 1949 über Wanderarbeiter (BGBl. 1959 II S.87/1960 II S.2204) - IAOÜbK - entgegen. Nach Art.8 Abs.1 IAOÜbK darf "ein dauernd zugelassener Wanderarbeiter" im Fall der Berufsunfähigkeit infolge einer nach seiner Ankunft eingetretenen Erkrankung ... in sein Heimatland ... nur zurückbefördert werden, wenn er es wünscht oder wenn für das beteiligte Mitglied geltende internationale Verträge eine solche Zurückbeförderung vorsehen. Die dauernde Zulassung eines Wanderarbeiters setzt voraus, daß dem Arbeitnehmer der Aufenthalt und die Beschäftigung im Aufnahmeland auf Dauer gestattet ist. Aufenthaltsrechtlich ist in Deutschland zur dauernden Zulassung eines Wanderarbeiters der Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erforderlich ... Eine solche ... besitzt der Kläger nicht.
      (2) Der Niederlassungs- und Schiffahrtsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland vom 18. März 1960 (BGBl. 1962 II S.1505/1963 II S.912) - NV - wird ebenfalls nicht verletzt. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, daß gemäß Art.2 Abs.1 NV auch nach mehr als fünfjährigem ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet des anderen Vertragsstaates für die Versagung der Aufenthaltserlaubnis anders als für die Ausweisung (vgl. Art.2 Abs.3 NV) der einfache Verstoß gegen die öffentliche Ordnung genügt ... und dieser Verstoß in der dauernden Inanspruchnahme von Sozialhilfe liegen kann ... Die Bestimmung [des Art.8 NV] regelt nicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern setzt deren Besitz vielmehr voraus.
      (3) Das Europäische Niederlassungsabkommen vom 13. Dezember 1955 (BGBl. 1959 II S.997/1965 II S.1099) - ENA - gewährt, wie sich insbesondere aus Art.1 bis 3 ENA ergibt, keinen über den deutsch/griechischen Niederlassungs- und Schiffahrtsvertrag hinausreichenden aufenthaltsrechtlichen Schutz ...
      (4) Das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (BGBl. 1956 II S.563/1958 II S.18) - EFA - ... beschränkt ebenfalls nicht das Ermessen bei der Entscheidung über die Versagung der Aufenthaltserlaubnis. Nach Art.6 Abs.a EFA darf ein Vertragschließender den Staatsangehörigen eines anderen Vertragschließenden, der in seinem Gebiet erlaubt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit rückschaffen. Ihrem Wortlaut und ihrer systematischen Stellung nach setzt diese Bestimmung einen erlaubten Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraus und betrifft daher nur aufenthaltsbeendende behördliche Maßnahmen, die während der Dauer eines erlaubten Aufenthalts ... ergehen. Die Frage, wann die Voraussetzung des erlaubten Aufenthalts erfüllt ist, regelt Teil III des Abkommens ... Dort ist in Art.11 Abs.a ausdrücklich vorgesehen, daß der erlaubte Aufenthalt grundsätzlich von dem Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis ... nach den Vorschriften des jeweils anwendbaren nationalen Rechts abhängig ist. Nach der Rechtsprechung des Senats, an der er festhält, schränkt daher das Rückschaffungsverbot in Art.6 Abs.a EFA die Gründe, aus welchen eine weitere Aufenthaltserlaubnis versagt werden kann, weder unmittelbar noch mittelbar ein (BVerwGE 66, 29 [33ff.]).