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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


820. AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG

Nr.86/1

[a] Die Abschiebungsanordnung gegenüber straffällig gewordenen Türken ist rechtswidrig, wenn die Ausländerbehörde nicht von Amts wegen aufgeklärt hat, welche Behandlung oder erneute Bestrafung ihnen in der Türkei droht.

[b] Die drohende Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe stellen ein Abschiebungshindernis dar, nicht jedoch allein eine drohende Doppelbestrafung.

[a] An order to deport Turkish citizens who have been convicted of a criminal offense is illegal if the immigration authority has not investigated ex officio what kind of treatment or additional punishment the deportees face in Turkey.

[b] The impending imposition and execution of a death sentence constitute a bar to deportation while double jeopardy of punishment by itself does not.

Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 3.6.1986 (18 A 405/84), InfAuslR 1986, 241 (ZaöRV 48 [1988], 56)

Einleitung:

      Wegen Handels mit Betäubungsmitteln wurde der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Ausländerbehörde wies ihn aus und ordnete seine Abschiebung für den Tag der Haft-entlassung an. Das Oberverwaltungsgericht hielt zwar die Ausweisung aus general- und spezialpräventiven Gründen für rechtmäßig, nicht jedoch die Abschiebungsanordnung.

Entscheidungsauszüge:

      Der Regierungspräsident ... hat zu Unrecht angenommen, Abschiebungshindernisse seien nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Trotz entsprechenden Vortrages des Klägers hat er nicht aufgeklärt und deshalb bei Erlaß der Abschiebungsanordnung nicht berücksichtigt, ob dem Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei eine erneute Bestrafung droht und welche Strafe in einem solchen Falle zu gewärtigen ist. ... Nach den vom Senat eingeholten und in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen ... ist von folgender Rechtslage in der Türkei auszugehen: Gemäß Art.3 Abs.1 des türkischen Strafgesetzbuches (TStGB) wird ein Türke, der in der Türkei eine Straftat begeht, ihretwegen auch dann verurteilt, wenn er bereits im Ausland für diese Tat verurteilt worden ist. Nach Art.403 Abs.1 und 2 TStGB wird mit lebenslänglichem Zuchthaus - oder bei qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen - mit dem Tode bestraft, wer Heroin ohne Erlaubnis herstellt, ein- oder ausführt und im Inland verbreitet. Wird also ein türkischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik wegen eines Rauschgiftdeliktes verurteilt und hat die Tat einen räumlichen Bezug zur Türkei, ist im Hinblick auf Art.3 Abs.1 TStGB zu gewärtigen, daß er in der Türkei noch einmal bestraft wird, ggf. ... mit dem Tode. Gemäß Art.5 TStGB ... muß ein türkischer Staatsangehöriger außerdem in der Türkei bestraft werden, wenn er im Ausland eine Straftat begangen hat, die nach den türkischen Gesetzen mit einer Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu bestrafen ist.
      Diese Rechtslage in der Türkei gebietet es, daß die Ausländerbehörde in einschlägigen Fällen von Amts wegen, also auch ohne entsprechenden Vortrag des häufig - auch - hinsichtlich des in seiner Heimat geltenden Rechts unkundigen türkischen Staatsangehörigen aufklärt, ob und ggf. welche erneute Bestrafung und u.U. welche Behandlung während eines Strafverfahrens einem türkischen Straftäter droht, dessen Abschiebung in die Heimat vorgesehen ist.
      Das folgt zunächst daraus, daß durch Art.102 GG die Todesstrafe abgeschafft ist. Diese Entscheidung von großem staats- und rechtspolitischem Gewicht enthält eine Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens (... BVerfGE 18, 122).
      Diese Wertvorstellung ist im Auslieferungsrecht, nämlich durch Bestimmungen in Auslieferungsübereinkommen sowie durch §8 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23. Dezember 1982, BGBl. I S.2071, inzwischen weitestgehend zur Geltung gebracht ...
      Deshalb obliegt deutschen Behörden in besonderem Maße Zurückhaltung, wenn sie auch nur mittelbar durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen daran mitwirken könnten, daß gegen einen Ausländer in seinem Heimatland die Todesstrafe vollstreckt wird (vgl. dazu nunmehr auch ... BVerfGE 60, 348 [354] ...).
      Die drohende Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe ist also ein Hindernis für die Abschiebung eines Ausländers, ... das allerdings wie im Falle der Auslieferung ... durch eine hinreichend verbindliche Erklärung des aufnehmenden Staates über die Nichtverhängung oder -vollstreckung der Todesstrafe überwunden werden könnte.
      Im übrigen ist bei der Entscheidung über eine Abschiebung stets auch der Grundsatz der Menschenwürde als oberstes Prinzip unserer Rechtsordnung zu beachten. Mit diesem Grundsatz wäre es nicht vereinbar, wenn deutsche Behörden an der menschenrechtswidrigen Behandlung (etwa der Folterung) eines Betroffenen durch dessen zwangsweise Überstellung in sein Heimatland mitwirken würden (vgl. ... BVerwGE 67, 184 [194] ...).
      In bezug auf die Türkei besteht insoweit im Hinblick auf das in das Verfahren eingeführte Schreiben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an das Auswärtige Amt vom 30. August 1985 sowie u.a. [die] Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 17. Mai 1983 und [den] diesen zugrundeliegenden Bericht des Abgeordneten Cariglia (vgl. EuGRZ 1983, 277 [280, 287 ff.]) Anlaß zur Überprüfung, ob dem Kläger im Rahmen eines etwaigen Strafverfahrens in seinem Heimatland eine menschenunwürdige Behandlung droht ...
      Eine drohende Doppelbestrafung als solche stünde der Abschiebung des Klägers aus der Bundesrepublik in sein Heimatland grundsätzlich nicht entgegen. Art.103 Abs.3 GG besagt lediglich, daß niemand von einem deutschen Gericht wegen einer Tat verurteilt werden darf, wegen der er von einem deutschen Gericht bereits einmal verurteilt worden ist. Aus §51 Abs.3 StGB (Anrechnung einer im Ausland verbüßten Strafe wegen derselben Tat) und aus §153c Abs.1 Nr.3 StPO (Absehen von Strafe) wird entnommen, daß auch ein deutsches Gericht einen Straftäter verurteilen kann, wenn er wegen derselben Tat bereits im Ausland verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat. Daraus wird deutlich, daß die Ausländerbehörden der Bundesrepublik nicht von vorneherein gehalten sein können, ausländische Straftäter vor einer erneuten Bestrafung zu bewahren.

Hinweis:

      Das vorliegende Urteil ist, soweit hier abgedruckt, rechtskräftig geworden. Ebenso entschied das OVG Nordrhein-Westfalen in einem Beschluß vom 24.2.1986 (18 B 100/86 - InfAuslR 1986, 201).