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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


212. EINZELNE REGELN

Nr.86/2 Die Tatsache, daß ein ausländischer Staat die unverzügliche Rückführung eines Angeklagten fordert, der durch einen V-Mann der deutschen Polizei unter Verletzung der Gebietshoheit dieses Staates zur Einreise in die Bundesrepublik verlockt worden war, begründet kein dem Schutze des Angeklagten vor Verurteilung dienendes Verfahrenshindernis.
An accused person unfairly enticed by an undercover agent of the German police, who acted in violation of a foreign state's territorial jurisdiction, to enter the Federal Republic of Germany cannot obtain a dismissal of the charge against him or her by relying on the fact that the foreign state is demanding his or her immediate return.

Bundesgerichtshof, Beschluß vom 19.12.1986 (2 StR 588/86), MDR 1987, 427 (ZaöRV 48 [1988], 39)

Einleitung:

      Der Angeklagte war von einem V-Mann der deutschen Polizei im Ausland zur Einfuhr von Heroin in die Bundesrepublik veranlaßt worden. Dort wurde er plangemäß verhaftet. Seine Verurteilung wegen der Einfuhr von Heroin und des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln hob der BGH mit Beschluß vom 23.10.1985 im Strafausspruch auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses verneinte er dagegen mit der Begründung, daß die Niederlande bisher keinen Wiedergutmachungsanspruch erhoben hätten, der seiner Natur nach der Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit entgegenstünde. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluß vom 3.6.1986 nicht zur Entscheidung an. In einer Verbalnote vom 6.1.1986 forderten die Niederlande wegen Verletzung der niederländischen Souveränität durch ein Organ der Bundesrepublik die "unverzügliche Rückführung" des Angeklagten. Dennoch verhängte das Landgericht gegen diesen abermals eine Freiheitsstrafe. Auf seine Revision hin stellte der BGH das Verfahren vorläufig ein, um die Erfüllung des niederländischen Verlangens zu ermöglichen.

Entscheidungsauszüge:

      1. Die Berechtigung der in der Verbalnote ... vom 6.1.1986 gezogenen "Schlußfolgerung, daß ein Organ der Bundesrepublik Deutschland die niederländische Souveränität verletzt hat, ohne daß es hierfür einen Entschuldigungsgrund gibt", soll nicht bezweifelt werden. Die Prämisse dieser Schlußfolgerung ist die Feststellung im ersten tatrichterlichen Urteil, daß der Angekl. durch den V-Mann ... veranlaßt wurde, das Rauschgift zur Übergabe an den "Aufkäufer" in die Bundesrepublik zu bringen, und zwar dadurch, daß der V-Mann die Lieferung in die Bundesrepublik "wünschte" und dem Angekl. ... im Falle einer solchen Lieferung einen höheren Gewinn in Aussicht stellte.
      Im Beschluß des Senats v. 23.10.1985 und im Beschluß des BVerfG v. 3.6.1986 ... ist auf Grund dieser tatrichterlichen Feststellung angenommen oder ausdrücklich der Entscheidung zugrunde gelegt worden, daß der Angekl. "von einem V-Mann der deutschen Polizei auf ausländischem Staatsgebiet zur Tatbegehung provoziert und zur Einreise in die Bundesrepublik verlockt wurde". Mit dieser Rechtsauffassung stimmt die "Schlußfolgerung" der Verbalnote überein. Von ihr ist auszugehen, auch wenn in den erwähnten Beschlüssen unerörtert blieb, ob die schlichte List, die der V-Mann anwandte, eine Strafverfolgungsmaßnahme mit Eingriffscharakter darstellt oder aus einem anderen Grunde als "hoheitliches Handeln" ... anzusehen ist.
      2. In Übereinstimmung mit einer Reihe von Entscheidungen des BVerfG und des BGH (in Auswahl: BVerfG, NJW 1986, 1427 ...; BVerfG, NStZ 1986, 468; BGH, NStZ 1984, 563; 1985, 464; BGH, StV 1985, 273) ist in den Beschlüssen vom 23.10.1985 und vom 3.6.1986 angenommen oder ausdrücklich ausgesprochen worden, daß das Völkerrecht einer Strafverfolgung des Angekl. nicht entgegensteht und daß "die Durchführung eines strafgerichtlichen Verfahrens auch nicht von Rechtsstaats wegen oder im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 GG" unzulässig ist. Auch davon ist auszugehen.
      3. Wiederum in Übereinstimmung mit der erwähnten Judikatur erkennen die Beschlüsse v. 23.10.1985 und vom 3.6.1986 an, daß ein "Wiedergutmachungsanspruch" des niederländischen Staats der Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit entgegenstehen kann. Die Tragweite des Entgegenstehens ist eine Frage, deren Beantwortung allein davon abhängt, was "nach Art" des Restitutionsanspruchs zu seiner Erfüllung erforderlich ist (BGH, NStZ 1984, 563).
      Dem Angekl. selbst erwachsen durch die Geltendmachung des Anspruchs keine Rechte, die eine (weitere) Strafverfolgung hindern würden ... . Infolgedessen kann aus dem Umstand, daß in der Verbalnote v. 6.1.1986 "die unverzügliche Rückführung" des Angekl. gefordert worden ist, ein seinem Schutze vor Verurteilung dienendes Verfahrenshindernis nicht hergeleitet werden. Die Anerkennung dieses Verlangens hat lediglich zur Folge, daß, wie die Verbalnote selbst besagt, eine völkerrrechtswidrige Veränderung des Aufenthalts des Angekl. rückgängig zu machen ist. Infolgedessen bringt auch der Restitutionsanspruch den materiellen Strafanspruch der Bundesrepublik nicht von Rechts wegen zum Erlöschen. Aber auch faktisch kann er den Fortgang des Verfahrens in der Revisionsinstanz nicht hindern. Das folgt insbesondere aus §350 StPO.
      Keiner Beantwortung bedürfen die Fragen, ob die Vorinstanz auf Grund rechtsfehlerhafter Erwägungen die Erfüllung des Restitutionsanspruchs verzögert hat und ob das zweite tatrichterliche Urteil im Falle unverzüglicher Anspruchserfüllung hätte ergehen können. Für den Restitutionsanspruch als solchen wäre durch Aufhebung des zweiten tatrichterlichen Urteils nichts gewonnen. Der Senat hat das im Rahmen seiner Möglichkeiten Liegende und in der jetzigen Prozeßlage zur Erfüllung des Verlangens auf "unverzügliche Rückführung" Gebotene dadurch getan, daß er, um die "Rückführung" zu ermöglichen, das Verfahren vorläufig eingestellt hat.