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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.93/1

Angehörige der albanischen Volksgruppe sind gegenwärtig wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der serbischen Provinz Kosovo einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Members of the Albanian ethnic group in the Serbian province of Kosovo are currently subject to group persecution directly by the state on account of their ethnic origin.

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 30.9.1993 (8 L 4413/91), NVwZ-RR 1995, 544 (nur Leitsatz) (ZaöRV 55 [1995], 853f.) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Die Kläger, jugoslawische Staatsangehörige albanischer Volkszugehörigkeit mit letztem Wohnsitz in der Provinz Kosovo, beantragten 1988 bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vergeblich Asyl. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bundesrepublik verpflichtet, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, weil es eine Gruppenverfolgung der Kosovo-Albaner annahm und daraus für die Kläger einen objektiven Nachfluchtgrund ableitete.

Entscheidungsauszüge:

      II.2. Gemäß Art.16 Abs.2 Satz 2 GG a.F. (= Art.16a Abs.1 GG i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 28.6.1993 - BGBl.I S.1002 -) genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Dieses Individualgrundrecht kann in Anspruch nehmen, wer selbst - in seiner Person - politische Verfolgung erlitten hat ... Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit mit ihnen vergleichbaren Lage befindet, so daß seine bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutverletzungen als eher zufällig anzusehen ist (... BVerfGE 83, 216, 231).
      Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das gleiche asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten und miteinander verbundenen Gruppe als solcher und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, daß jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muß. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt voraus, daß Gruppenmitglieder Rechtsgutsbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden ... Erforderlich ist insoweit, daß jedes im Verfolgungsgebiet lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise, latent oder potentiell, sondern wegen der Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt politische Verfolgung droht (... BVerwGE 85, 139, 142). Hierfür muß die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter gegeben sein, daß es sich nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt; vielmehr müssen die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und im Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, daß daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht, weil auch keine verfolgungsfreien oder deutlich weniger gefährdeten Zonen und Bereiche (inländische Fluchtalternativen) vorhanden sind (... BVerwGE 70, 232, 234).
      Die unmittelbare Betroffenheit eines einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung sind allerdings nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung. Die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen ist möglicherweise auch dann aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder herzuleiten, wenn diese Referenzfälle politischer Verfolgung es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Hier wie da ist es von Belang, ob vergleichbares Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, welches Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet.
      Bezogen auf diese fachgerichtlich entwickelten Unterscheidungen hat es das Bundesverfassungsgericht - für Fälle möglicher staatlicher Gruppenverfolgung wie auch für Fälle der Gruppenverfolgung durch Dritte - als naheliegend bezeichnet, den vom Bundesverwaltungsgericht geprägten Begriff der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit so zu verstehen und zu verwenden, daß der vielgestaltigen Realität politischer Verfolgung in ihrer jeweiligen Ausprägung Rechnung getragen wird ...[BVerfGE 83, 216, 233f.].
      Das heißt jedoch nicht, daß neben die Formen der Einzel- und Gruppenverfolgung eine dritte Kategorie asylerheblicher Verfolgungsbetroffenheit treten soll. Vielmehr weisen die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen Gesichtspunkte - im Verständnis des Bundesverwaltungsgerichts - nur darauf hin, daß es Fälle gibt, in denen es dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles und bei objektiver Beurteilung der Verfolgungsgefahr nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Diese Unzumutbarkeit kann sich grundsätzlich auch aus Referenzfällen stattgefundener oder stattfindender politischer Verfolgung sowie aus einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung ergeben. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen dann nach ihrer Intensität und Häufigkeit allerdings von einem solchen Gewicht sein, daß sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Asylbewerber die begründete Furcht ableiten läßt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (... BVerwGE 88, 367, 375, 377).
      Asylerhebliche Bedeutung haben in erster Linie unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen des Staates. Die Annahme einer unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung setzt voraus, daß mit ihr eigene staatliche Ziele durchgesetzt werden sollen und daß diese Ziele - offen oder verdeckt - von staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene oder doch autorisierte Kräfte durchgesetzt werden (... BVerwGE 85, 139, 143). ...
      Gemessen an diesen Grundsätzen steht den Klägern ... ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte zu. ... Die Kläger haben ... [zwar] Jugoslawien nicht wegen erlittener oder ihnen unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen. Gleichwohl sind die Kläger ... als Asylberechtigte anzuerkennen.
      Sie sind Angehörige der Volksgruppe der Albaner und stammen aus Klina in der serbischen Provinz Kosovo. ... Es kann offenbleiben, ob die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise als ethnische Albaner im Kosovo eine gruppengerichtete politische Verfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu befürchten hatten.
      Die Auswertung des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials führt für den erkennenden Senat zu dem Ergebnis, daß den Klägern bei einer Rückkehr in die Provinz Kosovo der serbischen "Bundesrepublik Jugoslawien" aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes jedenfalls gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Die aus der serbischen Provinz Kosovo stammenden Angehörigen der albanischen Volksgruppe sind gegenwärtig im Kosovo, wo die Kläger vor ihrer Ausreise gelebt haben und wohin sie zurückkehren würden, einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit ausgesetzt (2 a bis e). Den ethnischen Albanern aus dem Kosovo ist ein Ausweichen in andere Landesteile des ehemaligen Jugoslawien nicht zumutbar, so daß sie in ihrem Heimatland in eine ausweglose Lage geraten sind oder bei Rückkehr geraten würden (2 f). Anhaltspunkte dafür, daß sich diese Situation in absehbarer Zukunft entscheidungserheblich zugunsten der albanischen Volkszugehörigen im Kosovo ändern wird, bestehen nicht.
      a) ... Im Kosovo lag das weltliche Zentrum wie auch ... der religiöse Mittelpunkt des ... Serbenreiches ... Im Gefolge des Eindringens der Türken in das Kosovo als "Oberherren" und der Abwanderung der Serben aus dieser Region ließen sich albanische Bergstämme als wirtschaftende Bevölkerung in der fruchtbaren Ebene des Kosovo nieder. Die seit dem 17. Jahrhundert immer mehr zunehmende Besiedlung ihres "Heiligen Bodens" im Kosovo mit ethnischen Albanern haben die ... Serben seit je her nicht akzeptiert. ... Nach blutigen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Albanern und serbischen Ordnungs- und Sicherheitskräften im März 1989 sowie am Anfang des Jahres 1990 - ausgelöst durch eine von Serbien angekündigte Aufhebung des Autonomiestatus Kosovos - riefen im Juli 1990 albanische Delegierte des Kosovo-Parlaments die Republik Kosovo aus. Daraufhin verfügte das serbische Parlament die Auflösung des Provinzparlaments und suspendierte die Regierung Kosovos. Am 28. September 1990 trat die neue Verfassung Serbiens in Kraft, die dieser Republik die uneingeschränkte Hoheit über die Provinz Kosovo verschaffte und Kosovo zum Protektorat erklärte, in dem ein serbischer Gouverneur und serbische Funktionäre praktisch die gesamte Administration übernahmen ... Parallel zur Zerschlagung der politischen Strukturen der autonomen Provinz Kosovo versuchte anschließend die serbische Regierung, das kulturelle und wirtschaftliche Leben des Kosovo unter Kontrolle zu bringen. ...
      b) Vor diesem historischen Hintergrund hat sich die Lage der ethnischen Albaner im Kosovo seit Anfang des Jahres 1992 nachhaltig verschlechtert. Sie stellt sich gegenwärtig als Verfolgung einer Volksgruppe dar, die regelmäßigen Mißhandlungen, Folterungen und Körperverletzungen mit Todesfolge durch die serbische Polizei und die staatlichen serbischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt ist. ...
      c) Die unter b) festgestellten Verfolgungsmaßnahmen stellen eine unmittelbare Verfolgung des serbischen Staates gegenüber ethnischen Albanern dar. Die Republik Serbien verfügt im Kosovo über die effektive Gebietsgewalt. ...
      d) Die unter b) und c) festgestellten Übergriffe gegen ethnische Albaner stellen politische Verfolgungsmaßnahmen dar, weil sie nach dem jüngsten Erkenntnisstand ganz überwiegend nur noch an die Zugehörigkeit der Opfer zur Volksgruppe der Albaner anknüpfen und damit wegen eines asylerheblichen Merkmals erfolgen ... Das Erkenntnismaterial belegt, daß ethnische Albaner in der Regel allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit Opfer von Angriffen auf ihre körperliche Integrität werden. ... Der Senat stellt nicht in Frage, daß das Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte in Einzelfällen auch von sicherheitsbedingten Motiven geleitet sein kann. Die schwerwiegenden Repressalien gegenüber ethnischen Albanern knüpfen aber ... vor allem und mittlerweile ganz überwiegend allein oder vorrangig an ihre Volkszugehörigkeit an. ...
      e) Das Erkenntnismaterial belegt, daß die unmittelbare staatliche Verfolgung der ethnischen Albaner im Kosovo jedenfalls gegenwärtig die eine Gruppenverfolgung kennzeichnende Intensität aufweist. Die Verfolgungsmaßnahmen der serbischen Sicherheitsbehörden in Verbindung mit den Maßnahmen der Schnellgerichte wiederholen und erweitern sich in ihrer Hartnäckigkeit und Vielfalt so stark, daß für jeden Albaner im Kosovo die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. ... Aus diesen Gründen ergibt sich, daß den Klägern bei einer Rückkehr in ihre Heimat Kosovo gegenwärtig und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine regionale gruppengerichtete Verfolgung wegen ihrer albanischen Volkszugehörigkeit droht. ...
      f) Das Erkenntnismaterial belegt weiter, daß ethnischen Albanern heute und in absehbarer Zukunft ein Ausweichen vor politischer Verfolgung in andere Teile der Republik Serbien nicht möglich oder nicht zumutbar ist, so daß sie keine inländische Fluchtalternative besitzen und daher in ihrem Heimatstaat landesweit in eine aussichtslose Lage geraten sind. ... Darüber hinaus ist der Senat davon überzeugt, daß ethnische Albaner aus dem Kosovo in anderen Teilen Serbiens und Montenegros - abgesehen von ihnen dort drohender Verfolgung durch die serbischen Sicherheitsbehörden - bei generalisierender Betrachtung auf unabsehbare Zeit ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hätten; eine derartige Situation steht der Annahme einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative entgegen ...

Hinweis:

      Anders jetzt Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 5.7.1994 (9 C 158.94), NVwZ 1995, 175ff. Anders auch OVG Münster, Urteil vom 8.11.1993 (13 A 2486/92.A), NVwZ 1994, 602ff.