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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1000. AUSLIEFERUNG UND SONSTIGE INTERNATIONALE RECHTSHILFE

Nr.86/2

Läßt sich nicht nachweisen, daß der Verfolgte von den Hauptverhandlungsterminen amtlich in Kenntnis gesetzt worden ist, darf er nicht zur Vollstreckung einer im Abwesensheitsverfahren verhängten Freiheitsstrafe ausgeliefert werden.

If it cannot be proven that the fugitive offender was officially in-formed about the date of a trial in which he or she was convicted and sentenced in absentia to a term of imprisonment, he or she may not be extradited to serve the term of imprisonment.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluß vom 26.11.1986 (4 Ausl (A) 266/85), NJW 1987, 2172 (ZaöRV 48 [1988], 72)

Einleitung:

      Die italienische Regierung hat um Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten Gefängnis aus einem Abwesenheitsurteil ersucht. Das Oberlandesgericht lehnte die Anordnung von Auslieferungshaft ab, weil es die Auslieferung des Verfolgten nach Italien für von vornherein unzulässig hielt (§15 Abs.2 IRG).

Entscheidungsauszüge:

      II. Das vorbezeichnete Urteil ist in Abwesenheit des Verfolgten ergangen. Aus der Stellungnahme des Generalstaatsanwalts in G. ist zweifelsfrei zu entnehmen, daß der Verfolgte schon im Ermittlungsverfahren nicht befragt werden konnte, weil er die Flucht ergriffen hatte, und daß er weder an der Hauptverhandlung erster Instanz, noch an derjenigen zweiter Instanz teilgenommen hat. Zwar war er in beiden Rechtszügen jeweils durch einen (Pflicht-)Verteidiger vertreten; es sind jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß er auch nur von einer der beiden Hauptverhandlungen bzw. von dem gegen ihn geführten Strafverfahren überhaupt nachweislich Kenntnis erhalten hat, erst recht nicht dafür, daß eine solche etwaige Kenntnis auf amtlichen Mitteilungen beruht habe. Das vorliegenden Strafverfahren gegen ihn ist in Italien endgültig abgeschlossen; dem Verfolgten steht nach italienischem Recht kein ordentliches Rechtsmittel mehr zu, das er im Falle seiner Auslieferung nach Italien ausüben könnte.
      III. ... 2. Hier handelt es sich ... um ein gegen den Verfolgten ergangenes Abwesenheitsurteil. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Auslieferung zur Strafvollstreckung aus einem ausländischen Abwesenheitsurteil zulässig ist, ist im Anschluß an die Entscheidungen des BVerfG (BVerfGE 59, 280 ff.; BVerfGE 63, 332 ff. ...) in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, aber auch in der Literatur, immer einschränkender behandelt und entschieden worden ...
      3. Zwar haben die deutschen Gerichte im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung zur Strafvollstreckung grundsätzlich davon auszugehen, daß jenes ausländische Strafurteil auf rechtmäßige Weise zustandegekommen ist; insbesondere haben sie diese Frage nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen deutschen Rechts nachzuprüfen ... Für sie geboten ist jedoch die Überprüfung, ob die Auslieferung selbst und die ihr seitens des ersuchenden Staates zugrundeliegenden Akte mit unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und mit dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard an elementarer Verfahrensgerechtigkeit, der über Art.25 GG Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts ist, vereinbar ist ...
      Dementsprechend hängt die Beantwortung der Frage ob, bzw. unter welchen Voraussetzungen, eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen Abwesenheitsurteils zulässig ist, entscheidend davon ab, ob und inwieweit diese Verurteilung in einem Abwesenheitsverfahren gegen übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze verstoßen könnte. Maßgebliche Anhaltspunkte dafür, ob die unverzichtbaren, rechtlichen Mindesterfordernisse in diesem Sinne gewahrt worden sind, sind dem übergeordneten Grundsatz des "fair trial" zu entnehmen, der insbesondere die Gewährleistung ausreichenden rechtlichen Gehörs und die Wahrung der Mindestrechte einer angemessenen Verteidigung beinhaltet ... Zum Grundsatz des "fair trial" gehört, daß der Verfolgte im Rahmen des nach den Bestimmungen der ausländischen Verfahrensordnung durchgeführten Strafverfahrens die Möglichkeit haben muß - und auch tatsächlich nutzen kann-, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern und dabei entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung durch das ausländische Gericht zu erreichen (BVerfGE 63, 332 ff.). Dies ist aber nur dann ausreichend gesichert, wenn der Verfolgte nachweislich von dem konkret gegen ihn durchgeführten Strafverfahren und von anstehenden oder zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen Kenntnis erhalten hat und diese Kenntnis auf amtlicher Mitteilung beruht ... Wenn sich ergibt, daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, steht der Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung des in einem solchen ausländischen Verfahren ergangenen Abwesenheitsurteils nach der Auffassung des Senats kein rechtlich beachtliches Hindernis entgegen. Ein Verfolgter, dem die Wahrung seiner Rechte in solchem Umfange garantiert war, der sich jedoch gleichwohl dem ausländischen Strafverfahren willentlich entzogen hat und der dortigen Hauptverhandlung absichtlich ferngeblieben ist, hat im gerichtlichen Auslieferungsverfahren des ersuchten Staats keinen Anspruch auf weitergehenden Rechtsschutz ...
      4. Im vorliegenden Falle kann jedoch nicht einmal davon ausgegangen werden, daß der Verfolgte von der förmlichen Einleitung des gegen ihn gerichteten italienischen Strafverfahrens überhaupt in irgendeiner Weise etwas erfahren habe. Der bloße Umstand, daß er sich einem Strafverfahren im Ausland, dessen Einleitung er erwartete bzw. erwarten mußte, grundsätzlich durch Flucht entzogen hat, kann für sich allein nach der Auffassung des Senats nicht entscheidend ins Gewicht fallen.
      5. ... Da das italienische Abwesenheitsurteil ... endgültig rechtskräftig ist, kann die Nichtgewährung der nach Vorstehendem unbedingt zu garantierenden Mindestrechte des Verfolgten in dem damaligen italienischen Strafverfahren auch nicht mehr nachträglich geheilt werden ...