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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1000. AUSLIEFERUNG UND SONSTIGE INTERNATIONALE RECHTSHILFE

Nr.93/1

[a] Die Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen Abwesenheitsurteils hängt davon ab, ob die Verurteilung gegen übergeordnete von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze des "fair trial" verstößt.

[b] Selbst in einem solchen Fall ist die Auslieferung zulässig, wenn das ausländische Strafprozeßrecht dem Verfolgten die Möglichkeit gibt, das Abwesenheitsurteil durch einen einfachen Rechtsbehelf, der ihm keine besondere Darlegungs- und Beweislast auferlegt, zu beseitigen.

[c] Der Grundsatz "ne bis in idem" ist auch insoweit keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art.25 GG, die einer Auslieferung zur Strafverfolgung entgegenstünde, als der Verfolgte im ersuchenden Staat wegen derselben Straftat schon einmal verurteilt worden ist.

[a] The admissibility of an extradition for the purpose of executing a foreign judgment rendered after a trial in absentia depends on whether the conviction and sentencing violate higher principles of fair trial recognized by all states governed by the rule of law.

[b] Even in such a case the extradition is admissible if the foreign law of criminal procedure enables the person sought to eliminate the judgment rendered after a trial in absentia by a simple remedy which does not impose any special burden of factual specification and proof on this person.

[c] The principle of "ne bis in idem" is not a general principle of public international law in the sense of Art.25 of the Basic Law preventing an extradition for prosecution purposes, even if the person sought has already been convicted for the same offense in the requesting state.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluß vom 26.5.1993 (4 Ausl (A) 109/93 - 53/93 III), AVR 32 (1994) 271 ff. (ZaöRV 55 [1995], 862ff.)

Einleitung:

      Der Verfolgte, offenbar ein griechischer Staatsangehöriger, verbüßt gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland eine Freiheitsstrafe. Die Generalstaatsanwaltschaft Athen hat seine Auslieferung einerseits zwecks Strafverfolgung, andererseits zwecks Strafvollstreckung beantragt. Vollstreckt werden soll ein Abwesenheitsurteil wegen eines Teilkomplexes der dem Verfolgten in dem in Athen noch anhängigen Strafverfahren vorgeworfenen Straftaten.

Entscheidungsauszüge:

      II.2. Die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung ist unzulässig (§15 Abs.2 IRG), weil das gegen den Verfolgten in Griechenland durchgeführte Abwesenheitsverfahren in seiner konkreten Ausgestaltung rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht (§73 IRG).
      a) Zwar haben die deutschen Gerichte im Verfahren über die Zulässigkeit der Auslieferung zur Strafvollstreckung grundsätzlich davon auszugehen, daß das in dem ersuchenden Staat gegen den Verfolgten ergangene Strafurteil auf rechtmäßige Weise zustande gekommen ist. Insbesondere haben sie diese Frage nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen deutschen Rechts nachzuprüfen.
      Die dem Senat zufallende Prüfungskompetenz erstreckt sich indessen auf die Frage, ob die Auslieferung selbst und die ihr seitens des ersuchenden Staates zugrundeliegenden Akte mit unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und mit dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard an elementarer Verfassungsgerechtigkeit, der über Art.25 GG Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts ist, vereinbar sind. Dementsprechend hängt die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen Abwesenheitsurteils entscheidend davon ab, ob und in welchem Umfang die in einem Abwesenheitsverfahren ergangene Verurteilung gegen übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze verstößt. Maßgebliche Anhaltspunkte dafür, ob die unverzichtbaren rechtlichen Mindestanforderungen in diesem Sinne gewahrt worden sind, sind dem allen rechtsstaatlichen Rechtsordnungen immanenten Grundsatz des sog. "fair trial" zu entnehmen, der insbesondere die Gewährleistung ausreichenden rechtlichen Gehörs und die Wahrung der Mindestrechte einer angemessenen Verteidigung beinhaltet.
      Dazu gehört, daß der Verfolgte im Rahmen des nach den Bestimmungen der ausländischen Verfahrensordnung durchgeführten Strafverfahrens die Möglichkeit haben muß und auch tatsächlich nutzen kann, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern und dabei ihn entlastende Umstände vorzutragen, sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung durch das ausländische Gericht zu erreichen. Auch wenn die Rechtsordnung des ersuchenden Staates diese Garantien theoretisch vorsieht, muß dem Grundsatz des "fair trial" auch in der praktischen Anwendung des ausländischen Rechts Geltung verschafft werden.
      Eine ausreichende Sicherung der entsprechenden Mindestrechte des Verfolgten ist demgemäß nur dann gewährleistet, wenn er nachweislich von dem konkret gegen ihn durchgeführten Strafverfahren und von anstehenden oder zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen tatsächlich Kenntnis erhalten hat und diese Kenntnis auf amtlicher Mitteilung beruht.
      Nicht ausreichend ist in diesem Zusammenhang die nur theoretische Möglichkeit, Kenntnis von dem konkreten Strafverfahren zu erlangen, wie beispielsweise bei öffentlicher Zustellung von Terminsladungen ... Demgegenüber spielt es keine Rolle, aus welchen Gründen einem Verfolgten im konkreten Fall keine ausreichende Kenntnis durch amtliche Benachrichtigung verschafft werden konnte. Insbesondere kann der bloße Umstand, daß sich ein Verfolgter dem ausländischen Strafverfahren, dessen Einleitung er nach einer begangenen Straftat grundsätzlich erwarten muß, durch Flucht wegen befürchteter Strafverfolgung oder durch Verlassen des Landes aus anderen Gründen entzieht, für sich allein nicht entscheidend ins Gewicht fallen ...
      b) Im vorliegenden Fall kann nicht einmal davon ausgegangen werden, daß der Verfolgte von der förmlichen Einleitung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens überhaupt in irgendeiner Weise aufgrund amtlicher Benachrichtigungen etwas erfahren hat.
      c) Die Nichtgewährung der unbedingt zu garantierenden Mindestrechte kann auch nicht mehr nachträglich geheilt werden.
      Zwar ist davon auszugehen, daß es allgemeinen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen genügt, wenn einem in Abwesenheit verurteilten Verfolgten durch das Strafverfahrensrecht des ersuchenden Staates die tatsächliche Möglichkeit einer späteren gerichtlichen Überprüfung des Schuldvorwurfs im nachhinein eröffnet wird. In einem solchen Fall ist die Auslieferung eines Verfolgten auch im Fall eines gegen ihn ergangenen Abwesenheitsurteils zulässig.
      Indessen ist dafür entscheidende und zwingende Voraussetzung, daß dem Verfolgten ... eine rechtlich und tatsächlich wirksame Möglichkeit der nachträglichen Urteilsanfechtung eingeräumt wird. Der Verfolgte muß das Abwesenheitsurteil - auch wenn es bereits rechtskräftig ist - durch einen einfachen Rechtsbehelf, der dem Beschwerdeführer keine besondere Darlegungs- und Beweislast auferlegt, beseitigen können ...
      Im vorliegenden Fall kommt eine Zulässigkeit der Auslieferung unter diesem Gesichtspunkt der nachträglichen Heilung nicht in Betracht, weil der nach Art.430 Abs.1 griech. StPO vorgesehene Rechtsbehelf der sog. Wiedereinsetzung keinen absoluten Rechtsschutz bietet. Vielmehr handelt es sich um eine bloße Ermessensentscheidung des zuständigen Gerichts ...
      d) Es besteht auch keine Möglichkeit, der griechischen Regierung Gelegenheit zur Abgabe einer verbindlichen Zusicherung des Inhalts einzuräumen, daß dem Verfolgten im Falle der Bewilligung der Auslieferung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden, gewährleistet wird (vgl. Art.3 Abs.1 2.Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen). Denn Griechenland ist ... dem 2.Zusatzprotokoll ... bisher ... nicht beigetreten. Im übrigen kann die griechische Regierung nach geltendem innerstaatlichen Recht nicht das für die Entscheidung über eine Wiedereinsetzung allein zuständige Gericht bindend verpflichten, die ihm zufallende Entscheidung ... in einer bestimmten Richtung, nämlich Gewährung der Wiedereinsetzung und damit erneute Durchführung des ursprünglichen Strafverfahrens bis zum Urteil, zu treffen. Eine solche zwingende Gewährleistung eines neuen Gerichtsverfahrens und die Erteilung einer dahingehenden bindenden Zusicherung der Regierung des ersuchenden Staates ist aber Voraussetzung ... nach Art.3 Abs.1 2.ZusProtEuAlÜbk.
      III. Die Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung wegen des noch anhängigen ... Verfahrens (Vorwurf der vollendeten und der fortgesetzten versuchten Erpressung) ist zulässig.
      Die Zulässigkeit der Auslieferung scheitert insbesondere nicht an dem Grundsatz des Art.103 Abs.3 GG (ne bis in idem), der gegebenenfalls über §73 IRG im Auslieferungsverfahren zu berücksichtigen wäre.
      1. Eine unmittelbare Anwendung von Art.103 Abs.3 GG scheidet bereits deshalb aus, weil das in dieser Verfassungsnorm enthaltene Verbot der Doppelbestrafung ausschließlich im Verhältnis zwischen deutschen Gerichten gilt und lediglich eine mehrmalige Verurteilung durch deutsche Gerichte hindert ...
      2. Der in Art.103 Abs.3 GG enthaltene Grundsatz ist auch nicht als allgemein gültige Regel des Völkerrechts zu betrachten, die über Art.25 GG auch von deutschen Gerichten im Verhältnis zu ausländischen Gerichten zu beachten wäre (vgl. BVerfGE 75, 1, 18ff. zur Auslieferungsfähigkeit bei Strafverfolgung in einem Drittstaat).
      3. Es läßt sich auch nicht für den Fall einer erneuten Strafverfolgung wegen einer bereits abgeurteilten Tat im selben Staat eine allgemeine Regel des Völkerrechts feststellen, daß dem ein allen Rechtsordnungen immanentes Verbot der Doppelbestrafung entgegenstehe.
      Der Grundsatz "ne bis in dem" hat lediglich teilweise Eingang in fremde Rechtsordnungen gefunden, so daß schon von der quantitativen Bandbreite her durchgreifende Bedenken bestehen, eine Allgemeinverbindlichkeit anzunehmen. ... Abgesehen von Art.14 Abs.7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II, 1533) hat der Grundsatz ... bisher keinen Eingang in internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte gefunden. Die Regelungen der EMRK beinhalten kein Verbot der Doppelbestrafung; Art.4 7.Zusatzprotokoll zur EMRK ist ... bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Kraft getreten. Auch das Europäische Auslieferungsübereinkommen sieht kein entsprechendes Auslieferungshindernis vor, sondern erfaßt in Art.9 ... nur den Fall der rechtskräftigen Aburteilung im ersuchten Staat. Aus dem Umstand der Nichtregelung der erneuten Strafverfolgung trotz vorangegangener Verurteilung im ersuchenden Staat läßt sich unter Berücksichtigung der sonst allumfassenden Regelung von persönlichen und sachlichen Auslieferungshindernissen ein gewichtiger Gesichtspunkt gegen das Bestehen einer allgemeinen Regel des Völkerrechts gewinnen.
      Darüberhinaus weichen die Auffassungen über den Begriff "derselben Tat" in den einzelnen Rechtsordnungen erheblich voneinander ab, so daß Inhalt und Tragweite des Grundsatzes kaum eindeutig und allgemeinverbindlich zu bestimmen wären. Schon die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung und das damit verbundene Gebot der Achtung fremder Rechtsordnungen verbieten, den Maßstab des deutschen Rechts bei der Begriffsbestimmung zugrundezulegen.
      Die Souveränität eines jeden Staates verlangt, daß fremde Staaten nicht darüber bestimmen, wie der Tatbegriff auszulegen ist. Es muß von daher dem ersuchenden Staat vorbehalten bleiben, nach seiner Rechtsordnung zu entscheiden, in welchem Umfang und mit welchen Wirkungen er einer Verurteilung wegen derselben Tat Rechnung trägt. Es ist generell nicht Aufgabe deutscher Gerichte und deutscher Staatsgewalt, bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse darauf zu achten, ob gewährleistet ist, daß fremde Staatsgewalt in Ansehung des in Rede stehenden Sachverhalts den gleichen Beschränkungen unterliegt wie die entscheidenden deutschen Gerichte oder die berufene deutsche Staatsgewalt durch das geltende innerstaatliche Recht.
      Unter Berücksichtigung dieser Umstände und Gesichtspunkte läßt sich daher keine allgemeine Regel feststellen, nach der das Verbot der Doppelbestrafung schlechthin zum Kerngehalt des internationalen Strafrechts zu rechnen wäre ... Auch der Bundesgerichtshof geht demgemäß davon aus, daß der Grundsatz "ne bis in idem" im internationalen Strafrecht nicht allgemein anerkannt und auf zwischenstaatliche Beziehungen nicht anwendbar ist (vgl. BGHSt 34, 334, 340; 33, 26, 33).