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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1050. EUROPÄISCHES AUSLIEFERUNGSÜBEREINKOMMEN VOM 13.12.1957 (BGBl. 1964 II S.1371)

Allgemeines

Nr.87/1

Die Auslieferung zur Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe ist jedenfalls dann unzulässig, wenn die verurteilte Person von dem Verfahren keine Kenntnis erhielt, sich deshalb nicht verteidigen konnte und auch nicht verteidigt wurde.

Extradition for the purpose of enforcing a sentence of life imprisonment rendered after a trial in absentia is inadmissible at least in a case in which the convicted person had no knowledge of the proceedings, could thus not defend himself or herself and was not represented at the trial.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluß vom 26.1.1987 (4 Ausl (A) 5/80-47/87 III, 3. Strafsenat), ArchVR 1987, 484 (ZaöRV 48 [1988], 744)

Einleitung:

      Der Verfolgte war wegen Judenverfolgungsmaßnahmen während der deutschen Besatzungszeit 1949 von einem niederländischen Sondergericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Da er damals flüchtig war, erhielt er von dem Verfahren keine Kenntnis. Er war dort auch nicht vertreten. Die Niederlande suchten um seine Auslieferung nach, und der Generalstaatsanwalt beantragte, ihn in Auslieferungshaft zu nehmen. Da das Oberlandesgericht die Auslieferung für unzulässig hielt, lehnte es den Erlaß eines Haftbefehls ab.

Entscheidungsauszüge:

      VII. ... 3. Allerdings schließen die Bestimmungen des [Europäischen Auslieferungsübereinkommens] EuAlÜbk die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe, die durch ein Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, nicht generell aus.
      Den deutschen Gerichten steht auch nicht die Befugnis zu, das Zustandekommen eines ausländischen Strafurteils nach Maßgabe des innerstaatlichen deutschen Verfahrensrechts zu überprüfen (BVerfGE 63, 332 ff. ...). Die deutschen Gerichte haben vielmehr grundsätzlich davon auszugehen, daß ein ausländisches Strafurteil auf rechtmäßige Verfahrensweise zustandegekommen ist.
      In Auslieferungsverfahren ist jedoch die Überprüfung geboten, ob die Auslieferung selbst und die ihr seitens des ersuchenden Staates zugrundeliegenden Akte (somit auch das ausländische Urteil) mit unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und mit dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard an elementarer Verfahrensgerechtigkeit, der über Art.25 GG Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts ist, vereinbar sind (BVerfG aaO. und BVerfGE 59, 280, 283 ...).
      Die Frage, ob und unter welchen Umständen eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen Abwesenheitsurteils zulässig ist, ist im Anschluß an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ... in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, aber auch in der Literatur, immer einschränkender entschieden und behandelt worden ... Danach hängt die Beantwortung der Frage ... entscheidend davon ab, ob und inwieweit die Verurteilung in einem ausländischen Abwesenheitsverfahren gegen übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze verstoßen könnte. Maßgebliche Anhaltspunkte dafür, ob die unverzichtbaren rechtlichen Mindesterfordernisse in diesem Sinne gewahrt worden sind, sind dem übergeordneten Rechtsgrundsatz des "fair trial" zu entnehmen, der insbesondere die Gewährleistung ausreichenden rechtlichen Gehörs und die Wahrung der Mindestrechte einer angemessenen Verteidigung beinhaltet ... Zum Grundsatz des "fair trial" gehört, daß der Verfolgte im Rahmen des nach den Bestimmungen der ausländischen Verfahrensordnung durchgeführten Strafverfahrens die tatsächliche Möglichkeit haben muß - und sie auch tatsächlich nutzen kann -, auf das gegen ihn gerichtete Strafverfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern und dabei entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung - und gegebenenfalls auch Berücksichtigung - durch das ausländische Gericht zu erreichen ... Dies ist aber nur dann ausreichend gesichert, wenn der Verfolgte nachweislich von dem konkret gegen ihn durchgeführten Strafverfahren und von anstehenden oder zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen Kenntnis erhalten hat, und wenn diese Kenntnis auf amtlicher Mitteilung beruht ...
      Wenn sich ergibt, daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, steht der Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung des in einem solchen ausländischen Verfahren ergangenen Abwesenheitsurteils nach der Auffassung des Senats kein rechtlich beachtliches Hindernis entgegen. Ein Verfolgter, dem die Wahrung seiner Rechte in solchem Umfange garantiert war, der sich jedoch gleichwohl dann dem ausländischen Strafverfahren willentlich entzogen hat, und der insbesondere der dortigen Hauptverhandlung absichtlich ferngeblieben ist, hat im gerichtlichen Auslieferungsverfahren des ersuchten Staates keinen Anspruch auf weitergehenden Rechtsschutz ...
      4. Im vorliegenden Falle kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, daß der Verfolgte von der förmlichen Einleitung des gegen ihn gerichteten niederländischen Strafverfahrens überhaupt in irgendeiner Weise (geschweige denn auf amtlichem Wege) etwas erfahren hat, erst recht also nicht von der anstehenden Hauptverhandlung vor dem Sondergericht Amsterdam. Im Gegenteil spricht alles für seine völlige Unkenntnis in beiderlei Hinsicht.
      Der bloße Umstand aber, daß der Verfolgte sich einem Strafverfahren im Ausland, dessen Einleitung und Durchführung er erwartete oder erwarten mußte, schon im voraus durch Flucht entzogen hat, kann für sich allein nicht entscheidend zum Nachteil des Verfolgten ins Gewicht fallen ...
      5. ... Die den Verfolgten treffenden Folgen dieses Abwesenheitsverfahrens sind auch nicht mehr korrigierbar. Nach niederländischem Recht steht dem Verfolgten keinerlei Rechtsmittel oder Rechtsbehelf gegen das Abwesenheitsurteil vom 22.4.1949 mehr zu ...
      7. ... Zwar trifft es grundsätzlich zu, daß rechtsstaatlichen Verfahrenserfordernissen genügt ist, wenn dem in Abwesenheit verurteilten Verfolgten die tatsächliche Möglichkeit einer späteren gerichtlichen Überprüfung des Schuldvorwurfs nachträglich eröffnet wird ... Im vorliegenden Einzelfall ist dem Verfolgten jedoch eine solche tatsächlich wirksame Möglichkeit der Urteilsanfechtung nicht eingeräumt worden ...