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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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1111. STATUS UND FUNKTION DER EMRK

Nr.87/2

Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention sind bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen.

The contents of and the current state of law under the European Convention on Human Rights must be taken into account when interpreting the Basic Law.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 26.3.1987 (2 BvR 589/79 u.a.), BVerfGE 74, 358 (ZaöRV 48 [1988], 720) (s.1112.Art.6 Abs.2 [87/1])

Einleitung:

      Die Beschwerdeführer der zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerdeverfahren waren Beschuldigte in Privatklageverfahren wegen Beleidigungsdelikten. Die zuständigen Gerichte stellten die Verfahren nach §383 Abs.2 StPO ein und erlegten den Beschwerdeführern nach §471 Abs.2, 3 StPO die gesamten Verfahrenskosten auf. Die Verfassungsbeschwerden waren im wesentlichen erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht erkannte eine Verletzung der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes wurzelnden Unschuldsvermutung und ließ sich dabei von Art.6 Abs.2 EMRK leiten.

Entscheidungsauszüge:

      C.I.1. ... Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Art.6 Abs.2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes ... Wenn das Bundesverfassungsgericht sich zur Definition der Unschuldsvermutung auf den Wortlaut des Art.6 Abs.2 EMRK bezogen hat (BVerfGE 35, 311 [320]), der in der Bundesrepublik den Rang von Verfassungsrecht nicht genießt, so beruht dies auf der rechtlichen Wirkung, die das Inkrafttreten der Konvention auf das Verhältnis zwischen den Grundrechten des Grundgesetzes und ihnen verwandten Menschenrechten der Konvention hat. Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Art.60 EMRK). Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Auch Gesetze - hier die Strafprozeßordnung - sind im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.