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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.5 Abs.1 EMRK

Nr.90/1

Eine gesetzliche Bestimmung, die polizeilichen Gewahrsam zur Unterbindung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit vorsieht, verstößt nicht gegen Art.5 Abs.1 EMRK.

A statutory provision that a person can be taken into police custody to prevent this person from committing an administrative offense that would considerably affect the general public does not contravene Art.5 (1) of the ECHR.

Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 2.8.1990 (VF.3-VII-89 u.a.), BayVBl.1990, 654 (658 f.) (ZaöRV 52 [1992], 411)

Einleitung:

      Das Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz - PAG -) vom 24.8.1978 (GVBl. S.561) wurde durch das Zweite Gesetz zur Änderung des PAG vom 23.3.1989 (GVBl. S.79) auch in bezug auf den sog. Unterbindungsgewahrsam geändert: Die Polizei erhielt durch eine Ergänzung des Art.16 Abs.1 Nr.2 PAG die Befugnis, Personen in Gewahrsam zu nehmen, wenn das unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung nicht nur mehr einer Straftat, sondern auch einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Aufgrund richterlicher Entscheidung durfte der Polizeigewahrsam bis zu zwei Wochen betragen (Art.19 Nr.3 PAG). Dagegen wurden mehrere Popularklagen nach Art.98 Satz 4 der Bayerischen Verfassung erhoben, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof als unbegründet zurückwies. Dabei nahm er auch zu der Vereinbarkeit des erweiterten Unterbindungsgewahrsams mit Art.5 Abs.1 EMRK Stellung.

Entscheidungsauszüge:

      VI.A.2.b) ee) Die Möglichkeit eines Gewahrsams auch zur Verhütung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit verstößt nicht gegen Art.5 Abs.1 der als Bundesrecht geltenden Konvention zum Schutz der Menschenrechte (MRK) vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S.685). Nach Art.5 Abs.1 Satz 2 Buchst. c MRK ist eine Freiheitsentziehung u.a. nur dann zulässig, wenn begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß sie notwendig ist, um den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern. Der Verfassungsgerichtshof hat nicht verbindlich zu entscheiden, ob diese Bestimmung des Bundesrechts dahin auszulegen ist, daß auch Ordnungswidrigkeiten unter den Begriff der strafbaren Handlung im Sinn des Art.5 Abs.1 Satz 2 Buchst. c MRK fallen (vgl. Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, RdNr.59 zu Art.5; verneinend Blankenagel, DÖV 1989, 689/697 und Jahn, DVBl. 1989, 1038/1043 m.w.N.). Jedenfalls läßt sich nicht eindeutig feststellen, daß nur die mit Kriminalstrafe bedrohten Handlungen von Art.5 Abs.1 Satz 2 Buchst. c MRK erfaßt wären. Es kann kaum angenommen werden, die Vertragsstaaten hätten sich so weit binden wollen, daß in einem Staat präventiv-polizeilicher Gewahrsam ausgeschlossen sein sollte, wenn der Staat das zu verhindernde Unrecht nur unter die Sanktion einer Geldbuße und nicht einer Kriminalstrafe stellt; diese Einordnung kann in den einzelnen Staaten für dasselbe Unrecht unterschiedlich sein ...
      Die Auffassung, präventiv-polizeilicher Gewahrsam sei bundesrechtlich zur Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit nicht verboten, könnte im übrigen auf Art.5 Abs.1 Satz 2 Buchst. b MRK gestützt werden. Danach ist eine Freiheitsentziehung u.a. zulässig, wenn durch sie die Erfüllung einer gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtung erzwungen werden soll. Darunter kann auch die Verpflichtung verstanden werden, Störungen im Sinn des Rechts der Gefahrenabwehr zu unterlassen ... Auch für diese Alternative des Art.5 MRK kann wohl nicht angenommen werden, die Vertragsstaaten hätten den herkömmlichen Polizeigewahrsam ausschließen oder einschränken wollen ...