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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.5 Abs.5 EMRK

Nr.93/1

Aus Art.5 Abs.5 EMRK ergibt sich auch ein Anspruch auf Ersatz des durch rechtswidrige Inhaftierung erlittenen immateriellen Schadens.

Art.5 (5) of the European Convention on Human Rights also includes a claim for compensation of non-pecuniary damage suffered due to unlawful imprisonment.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 29.4.1993 (III ZR 3/92), BGHZ 122, 268ff. (ZaöRV 55 [1995], 865)

Einleitung:

      Der Kläger begehrte u.a. Ersatz des immateriellen Schadens (Schmerzensgeld), weil er infolge des rechtswidrigen Vollzugs von Untersuchungs- und Strafhaft einen Gesundheitsschaden erlitten habe.

Entscheidungsauszüge:

      1. ... Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt innerstaatlich mit Gesetzeskraft und gewährt in Art.5 Abs.5 dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch, wenn seine Freiheit dem Art.5 Abs.1 EMRK zuwider beschränkt wurde ...
      2. Ein Verstoß gegen die in Art.5 Abs.1 EMRK selbst normierten Haftvoraussetzungen ist nicht ersichtlich. Die Inhaftierung des Klägers war aber zeitweise innerstaatlich rechtswidrig, so daß der Freiheitsentzug (mittelbar) konventionswidrig war, auch wenn die Anforderungen der Konvention an die Voraussetzungen, unter denen Untersuchungshaft angeordnet werden kann, geringer sind als die der deutschen Strafprozeßordnung ...
      Art.5 EMRK schützt allerdings nicht unmittelbar die körperliche Unversehrtheit ... Die Garantie bezieht sich ... nur auf die Freiheitsentziehung als solche, nicht auf die Modalitäten des Vollzugs der Untersuchungs- oder Strafhaft ...; daher ergeben sich aus ihr keine Rechte von verhafteten Personen in bezug auf ihre Behandlung in der Haft ... Die Umstände des Vollzugs können aber die Rechtmäßigkeit der Haft in Frage stellen ... Gerade in Fällen, in denen die im Vollzug zur Verfügung stehenden Fürsorgemittel nicht ausreichen, um von der Haft ausgehende Gesundheitsbeeinträchtigungen abzuwenden, wird die Vollzugstauglichkeit zur Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Haft.
      a) Die gegen den Kläger vollzogene Untersuchungshaft war ... rechtswidrig. ...
      b) Der Vollzug der gegen den Kläger erkannten Strafhaft war ... rechtswidrig. ...
      4. Ein Verschulden des pflichtwidrig handelnden Amtsträgers setzt der Anspruch nach Art.5 Abs.5 EMRK nicht voraus (... BGHZ 45, 58 [65]).
      5. Ob §839 Abs.3 BGB oder §254 BGB - der ebenfalls gebieten kann, einen belastenden hoheitlichen Akt durch geeignete Rechtsbehelfe abzuwehren ... - auf einen Anspruch aus Art.5 Abs.5 EMRK anwendbar sind, bedarf keiner Entscheidung, da dem Kläger eine schuldhafte Versäumung von Rechtsbehelfen nicht anzulasten ist. ...
      6. Aufgrund des Art.5 Abs.5 EMRK kann der Kläger auch ein Schmerzensgeld beanspruchen.
      In seinem Urteil vom 31.Januar 1966 (... BGHZ 45, 48) hat der Senat den Anspruch aus Art.5 Abs.5 als einen Fall der Gefährdungshaftung angesehen, der an rechtswidriges Verhalten anknüpft. Er hat dabei ausdrücklich die Frage offengelassen, ob er auch den Ersatz immateriellen Schadens umfaßt. Dies ist zu bejahen. Bei Art.5 Abs.5 EMRK handelt es sich um ein Gesetz im Sinne von §253 BGB, aufgrund dessen wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine Entschädigung in Geld gefordert werden kann.
      a.) Die in Art.5 EMRK geschützte Freiheit ist ein immaterielles Rechtsgut, das weniger durch seinen materiellen Wert, als durch seine Bedeutung für das persönliche Wohl gekennzeichnet ist. Wenn deswegen bei konventionswidriger Verletzung der Freiheit Schadensersatz zu leisten ist, bedeutet dies - ungeachtet der Tatsache, daß ein Freiheitsentzug auch zu einem wirtschaftlichen Schaden führen kann - zunächst Ersatz für den Verlust der Freiheit selbst, also immateriellen Schadensausgleich ... Die Konvention läßt dem Freiheitsrecht besonderen, weitreichenden Schutz zukommen. Sie hat es selbst mit einem unmittelbaren, bei den nationalen Gerichten einklagbaren Schadensersatzanspruch bewehrt, während die Verletzung der übrigen Garantien, sofern innerstaatliches Recht keinen Ausgleichsanspruch vorsieht, nur im Rahmen von Art.5 EMRK gerecht entschädigt werden kann. Die Haftung tritt unabhängig von einem vorwerfbaren Handeln dessen ein, der die Freiheitsentziehung zu verantworten hat, so daß schon der objektiv konventionswidrige Freiheitsentzug zum Schadensersatz verpflichtet. Der Schutz, den die Konvention bezweckt, wird deshalb erst dann vollständig gewährt, wenn nicht nur für den nicht notwendigerweise eintretenden wirtschaftlichen Schaden, sondern auch für den nichtwirtschaftlichen Schaden, den der Verlust der Freiheit immer bedeutet ..., unmittelbar und nicht erst aufgrund des Art.50 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Ersatz geleistet wird.
      b) Grundsätze des deutschen Schadensersatzrechts stehen dem nicht entgegen, insbesondere nicht, daß - abgesehen von wenigen nicht verallgemeinerungsfähigen Ausnahmefällen ... - immaterieller Schaden nur vom schuldhaft handelnden Schädiger zu erstatten ist. Die Konvention ist nicht vom nationalen Gesetzgeber verfaßt, von diesem aber - in dem Bewußtsein, daß das bisherige Haftungssystem dadurch beeinflußt werden konnte - ins deutsche Recht transformiert worden. Der deutsche Gesetzgeber hat auch das Verfahren der Menschenrechtskonvention - mit der Zuständigkeit des Gerichtshofs und der Individualbeschwerde - anerkannt und so eine Rechtsschutzerweiterung gegenüber dem bisherigen deutschen Recht zugelassen.
      c) Keiner weiteren Vertiefung bedarf daher die Frage, ob darüber hinaus die Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der aufgrund seiner Kompetenz aus Art.50 EMRK schon mehrfach immateriellen Schaden auch bei Freiheitsentzug entschädigt hat (vgl. z.B. Urteile vom 13.Mai 1980 - EuGRZ 1980, 662, 666f. [Fall Artico] und vom 12.Mai 1992 - EuGRZ 1992, 347 [Fall Megyeri]), auch ohne eine rechtliche Bindung ..., für die Anwendung der Konvention vorrangige Beachtung erlangen kann. Der Umfang des Schutzes wird durch die überstaatlich zusammengesetzten Organe der Menschenrechtskonvention mit besonderer Autorität über den Einzelfall hinaus verdeutlicht ... und kann zudem durch die Entscheidung über eine Individualbeschwerde durchgesetzt werden ... Die zitierten Entscheidungen betreffen zwar Staaten, deren Rechtsordnungen den Ersatz des Nichtvermögensschadens außerhalb der Konvention nicht für ersetzbar halten ... Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich jedoch zur Anspruchsgrundlage, deren er sich bedient ..., bislang noch nicht abschließend geäußert, sondern lediglich erklärt, daß bei der Gewährung des Ausgleichs die materiellrechtliche Bestimmung des Art.5 Abs.5 in Erwägung zu ziehen ist (Urteil vom 7.Mai 1974, EuGRZ 1974, 27 - Fall Neumeister ...).
      d) Der Schadensersatzanspruch des Art.5 Abs.5 EMRK ist der Höhe nach nicht auf eine Entschädigung innerhalb der Grenzen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) beschränkt.