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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (faires Verfahren)

Nr.92/1

Bei Staaten, die den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die EMRK ratifiziert haben, kann auf eine rechtsstaatlich einwandfreie Behandlung von ausgelieferten Personen vertraut werden.

Persons may safely be extradited to states which have ratified the International Covenant on Civil and Political Rights and the European Convention on Human Rights, trusting in their unobjectionable treatment from a rule of law perspective.

Bundesverfassungsgericht (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 22.6.1992 (2 BvR 1901/91), unveröffentlicht (vgl. Juris-Dokument Nr.381896) (ZaöRV 54 [1994], 523)

Einleitung:

      Die britische Regierung hatte um Auslieferung des Beschwerdeführers ersucht, um diesen als mutmaßliches IRA-Mitglied wegen terroristischer Akte in Nordirland zur Verantwortung ziehen zu können. Gegen die Anordnung von Auslieferungshaft durch das Oberlandesgericht richtet sich die Verfassungsbeschwerde, die mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Entscheidungsauszüge:

      2. ... d) ... Aus den Feststellungen des Oberlandesgerichts folgt ..., daß die Auslieferung mit den Mindeststandards vereinbar ist, die nach dem Grundgesetz und nach allgemeinen Regeln des Völkerrechts unabdingbar sind (vgl. dazu BVerfGE 63, 332 [337 ff.]; 75, 1 [19]).
      aa) Das Oberlandesgericht unterstellt, daß in dem gegen den Beschwerdeführer in Großbritannien gerichteten Strafverfahren entgegen den ergänzenden Mitteilungen der britischen Behörden die vom deutschen Strafprozeßrecht abweichende Beweisregel Anwendung findet, wonach das Schweigen zu den von der Anklage erhobenen Vorwürfen als belastendes Indiz gegen den Angeklagten gewertet werden dürfe. Das Gericht meint, dies stehe der Gewährleistung eines fairen Strafverfahrens, wie sie in Art.6 MRK zum Ausdruck komme, nicht entgegen; die fragliche Beweisregel gehöre mithin nicht zu dem nach Art.25 GG zu beachtenden völkerrechtlichen Mindeststandard. Diese Würdigung ist nicht zu beanstanden ... Bei der hier gegebenen Fallkonstellation würde die Auslieferung des Betroffenen nach Großbritannien aber auch nicht den Kernbereich des Rechtsstaatsprinzips als unabdingbaren Grundsatz der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ... verletzen, wenn sein Schweigen in dem Strafverfahren in Großbritannien zu seinem Nachteil gewertet werden könnte.
      Zum einen kann erwartet werden, daß die Regierung von Großbritannien, zu der der deutsche Staat seit über 100 Jahren - unterbrochen durch die beiden Weltkriege - vertragliche Auslieferungsbeziehungen unterhält, auch dafür Sorge tragen wird, daß ihre mit Verbalnote vom 7.6.1990 im vorliegenden Auslieferungsverfahren abgegebene Erklärung, die Criminal Evidence (Northern Ireland) Order 1988 sei auf den Beschwerdeführer nicht anwendbar, in dem gegen ihn durchzuführenden Strafverfahren Beachtung findet. Zum anderen erscheint die vom Oberlandesgericht gewürdigte Verdachts- und Beweislage aufgrund von Zeugenaussagen und Indizien so gefestigt, daß die vom Beschwerdeführer beanstandete Beweisregel sich allenfalls unterstützend auswirken, keinesfalls aber allein eine Verurteilung tragen würde. Jedenfalls in einem solchen Fall zählt ein uneingeschränktes beweisrechtliches Verwertungsverbot nicht zum Kernbereich des Rechtsstaatsprinzips.
      bb) Im Ergebnis sind auch die angegriffenen Feststellungen des Oberlandesgerichts zur behaupteten Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung des Beschwerdeführers durch die nordirische Polizei und im dortigen Strafvollzug verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht überprüft zwar diese Einwendungen nach seinem rechtlichen Ansatz nur am Maßstab des internationalen "ordre public", "dessen Anforderungen nicht überspannt werden" dürften. Auch mit unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung ist es aber vereinbar, wenn das Gericht davon ausgeht, daß die von einem Verfolgten behauptete Gefahr der menschenrechtswidrigen Behandlung nicht schon dann einer Auslieferung in einen international anerkannten Rechtsstaat entgegensteht, wenn sie aufgrund von bekannt gewordenen früheren Vorfällen nicht ausgeschlossen werden kann. Es müssen vielmehr wesentliche Gründe für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr von menschenrechtswidriger Behandlung vorliegen. Dies wird auch den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerecht, dessen Rechtsprechung auch als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]). Danach ist eine Verletzung von Art.3 MRK durch den ausliefernden Staat nur anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung des wachsenden Interesses der Nationen, flüchtige Tatverdächtige der Heimatjustiz zu überstellen, ein echtes Risiko unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht (EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989 - NJW 1990, 2183 [2184] = Fall Soering; vgl. auch EGMR, Urteil vom 20. März 1991, NJW 1991, 3079 [3080]).
      Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung besteht aufgrund der Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht; dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, daß das Oberlandesgericht - ausgehend von der besonderen Situation des Beschwerdeführers und des vorliegenden Auslieferungsverfahrens - Berichten von Menschenrechtsorganisationen nicht weiter nachgegangen ist ..., sondern davon ausgeht, daß in Anbetracht der Publizität dieses Falles, der im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit stehe, künftige Mißhandlungen des Beschwerdeführers, die sich auch nicht verheimlichen ließen, das Ansehen Großbritanniens als Rechtsstaat erheblich schädigen und auch zu einem Vertrauensverlust im deutsch-britischen Auslieferungsverkehr führen würden. Das Oberlandesgericht ... spricht insoweit die Erwartung aus, daß die britischen Behörden die zuständigen nordirischen Polizeiorgane überwachen und auch im übrigen alles Erforderliche unternehmen werden, um nach Auslieferung des Verfolgten dessen rechtsstaatlich einwandfreie Behandlung zu gewährleisten. Dieses von dem Gericht ausgesprochene Vertrauen in die Wahrnehmung der rechtsstaatlichen Verantwortung des ersuchenden Staates gegenüber dem Beschwerdeführer ist besonders darum gerechtfertigt, weil Großbritannien ein Rechtsstaat mit einer über Jahrhunderte hinweg gewachsenen international anerkannten Rechtstradition ist und unter anderem den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert hat. Großbritannien wird daher auch bei der Durchführung des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte unterliegen.
      Darüber hinaus kann es für die Bundesregierung in Betracht kommen, die Bewilligungsentscheidung von einer entsprechenden Zusage des ersuchenden Staates abhängig zu machen. Dies könnte auch darum naheliegen, weil der Beschwerdeführer - wenn auch in einer Ausnahmesituation - bereits 1983 erheblichen Mißhandlungen in dem nordirischen Gefängnis The Maze ausgesetzt war.