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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (Verfahrensdauer)

Nr.88/1

Eine der Vorschrift des Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK zuwiderlaufende Verfahrensverzögerung muß als besonderer Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden.

A procedural delay in violation of Art.6 (1) (1) of the European Convention on Human Rights must be taken into account as a special mitigating factor in favor of the defendant when determining his or her penalty.

Bundesgerichtshof, Beschluß vom 6.9.1988 (1 StR 473/88), NStZ 1988, 552 (ZaöRV 50 [1990], 114)

Entscheidungsauszüge:

      2. Mit Recht weist die Revision auch darauf hin, daß der Tatrichter ausweislich der Urteilsgründe nicht geprüft hat, ob das in Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK garantierte Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden ist. Es ist zu besorgen, daß hier eine derartige Rechtsverletzung vorliegt. Der neue Tatrichter wird diese Prüfung nachzuholen und hierbei zu beachten haben, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BGH im Rahmen der Strafzumessung eine der Vorschrift des Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK zuwiderlaufende Verfahrensverzögerung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden muß ... Es handelt sich um einen besonderen Strafmilderungsgrund, der ... als solcher eigenständig zu berücksichtigen und in den Urteilsgründen zu erörtern ist. ... So kommt es nicht auf die Beendigung der Tat, sondern auf den Beginn des Verfahrens i.S. des Art.6 Abs.1 EMRK an, d.h. auf die Bekanntgabe des Schuldvorwurfs an den Betroffenen ... Andererseits endet das Verfahren i.S. des Art.6 Abs.1 EMRK nicht schon mit der (ersten) Aburteilung, sondern erst mit der rechtskräftigen Festsetzung der Strafe ... Die Angemessenheit der so errechneten Verfahrensdauer beurteilt sich nach den besonderen Erfordernissen des Art.6 Abs.1 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Zweck dieses besonderen Strafmilderungsgrundes besteht vor allem darin, eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes des Art.6 Abs.1 EMRK durch die Konventionsorgane dadurch überflüssig zu machen, daß die zuständigen deutschen Gerichte eine eingetretene Verletzung des Art.6 Abs.1 EMRK von sich aus feststellen und mit den Mitteln des innerstaatlichen Rechts - vor allem im Rahmen der Strafzumessung - kompensieren ...

Hinweis:

      Ebenso BGH, StV 1992, 452. Vgl. auch OLG Zweibrücken, Beschluß vom 21.9.1988 (1 Ws 402/88), NStZ 1989, 134 (ZaöRV 50 [1990], 114 f.): "Beruht ... die überlange Verfahrensdauer auf einer von den Justizbehörden zu verantwortenden erheblichen Verfahrensverzögerung, so kann dies bei einem besonders schwerwiegenden und in seinen Folgen nachhaltigen Verstoß gegen das strafprozessuale Beschleunigungsgebot ein Verfahrenshindernis begründen ..."