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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (Verfahrensdauer)

Nr.91/2

Selbst wenn Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK auf finanzgerichtliche Verfahren Anwendung fände, hätte eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht zur Folge, daß ein Steuerbescheid rechtswidrig wäre und ersatzlos aufgehoben werden müßte, wenn das Finanzgericht über die gegen ihn gerichtete Klage nicht binnen angemessener Zeit entschieden hat.

Even if Art.6 (1) clause 1 of the European Convention on Human Rights were applicable to tax court proceedings, a violation by the tax court of the right to a hearing within a reasonable time would not render the tax assessment issued by the tax authority illegal so that the court would have to annul it.

Bundesfinanzhof, Beschluß vom 13.9.1991 (IV B 105/90), BFHE 165, 469 (ZaöRV 53 [1993], 414)

Einleitung:

      Das Verfahren vor dem Finanzgericht hatte zehn Jahre gedauert. Die gegen die Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde wurde mit der überlangen Verfahrensdauer begründet, vom Bundesfinanzhof jedoch zurückgewiesen.

Entscheidungsauszüge:

      I. 1. ...b) ... Nach §115 Abs.2 Nr.3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. ... Nach Art.6 Abs.1 Satz 1 MRK hat jedermann Anspruch u.a. darauf, daß seine Sache innerhalb angemessener Frist von einem unabhängigen Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ... zu entscheiden hat. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 28. Juni 1978 im Fall König (... NJW ... 1979, 477) erstreckt das Beschleunigungsgebot des Art.6 Abs.1 MRK sich auch auf bestimmte Verwaltungsstreitverfahren. Für Art.6 Abs.1 MRK ist nach Auffassung des EGMR allein die Tatsache maßgeblich, daß die in Frage stehenden Rechtsstreitigkeiten die Entscheidung über privatrechtliche Ansprüche zum Gegenstand haben. Steuerstreitigkeiten, selbst wenn sie sich auf die Vermögenslage des Betroffenen auswirken, begründen nach der Zuständigkeitsentscheidung Nr.2552/65 der Kommission (Collection of Decisions 26.1) keine Zuständigkeit nach Art.6 Abs.1 MRK, da das für dieses Verfahren ausschlaggebende Steuerrecht dem öffentlichen Recht zuzuordnen sei ...
      Selbst wenn man aber mit der Klägerin von einer gegen Art.6 Abs.1 MRK verstoßenden Überlänge des Verfahrens ausgeht, kann die Revision nicht wegen Verfahrensfehlers zugelassen werden. Die Klägerin hat nämlich nicht dargelegt, daß die Entscheidung des Finanzgerichts auf dem angenommenen Verfahrensmangel beruhen kann. Dazu hätte dargelegt werden müssen, daß die Entscheidung des Finanzgerichts anders und für die Klägerin günstiger hätte ausfallen können, wenn das Finanzgericht seine Entscheidung binnen eines angemessenen Zeitraums, also ohne den Verfahrensfehler der überlangen Verfahrensdauer, getroffen hätte. Dies ist indessen nicht geschehen. Ein Verfahrensfehler kann nicht bereits darin gesehen werden, daß das Finanzgericht noch eine der Klägerin ungünstige Sachentscheidung nach Ablauf von etwa 10 Jahren seit Klageerhebung ... getroffen hat. Nach den Vorschriften der FGO mußte das Finanzgericht in dem seit 1980 anhängigen Rechtsstreit auch noch im Jahre 1990 die Entscheidung treffen, die sich nach seiner Überzeugung aus den einschlägigen Vorschriften des materiellen Rechts ergab. ... [G]eht man von der Rechtsauffassung der Klägerin aus, die überlange Verfahrensdauer bewirke die Rechtswidrigkeit (auch) der angefochtenen Steuerbescheide und der Einspruchsentscheidung, [hätte das Finanzgericht] nicht gegen Verfahrensrecht, sondern gegen materielles Recht verstoßen. ...
      2. Aus den Ausführungen zur Verfahrensdauer ergibt sich auch kein Zulassungsgrund nach §115 Abs.2 Nr.1 FGO. Denn die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine überlange Dauer des Verfahrens vor dem Finanzgericht die Rechtswidrigkeit sowohl des FG-Urteils als auch der angefochtenen Steuerbescheide und der Einspruchsentscheidung bewirkt, ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne der genannten Vorschrift.
      a) ... Weder aus den Steuergesetzen noch aus Art.6 Abs.1 MRK, noch aus Vorschriften des Grundgesetzes läßt sich die von der Klägerin behauptete Rechtsfolge ableiten, ein Steuerbescheid werde rechtswidrig und müsse ersatzlos aufgehoben werden, wenn das Finanzgericht über die bei ihm eingelegte Klage nicht binnen angemessener Zeit entschieden habe. ...
      c) Auch eine (unterstellte) Verletzung des Art.6 Abs.1 MRK kann das Erlöschen der Steueransprüche und als Folge hiervon die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide, der Einspruchsentscheidung und des FG-Urteils offensichtlich nicht zur Folge haben. Die bloße Verfahrensdauer hat keinen Einfluß auf die Begründetheit der streitgegenständlichen Ansprüche ... und damit auch nicht auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots hat konventionsrechtlich zur Folge, daß der EGMR nach Art.50 MRK der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zubilligt, wenn die innerstaatlichen Gesetze nur eine unvollkommene Wiedergutmachtung für die Folgen der Verletzungshandlung gestatten. Fragen einer etwaigen Entschädigung wären aber nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens beim BFH. Die Revision gegen das Urteil des Gerichts, dessen Verfahren übermäßig lang gewesen sein soll, ist deshalb auch nicht nach Art.26 MRK, der die Beschwerde an den EGMR von der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs abhängig macht, Voraussetzung für das konventionsrechtliche Beschwerdeverfahren ... Im übrigen hat die Europäische Kommission für Menschenrechte, wie dargelegt (vgl. oben 1.b) in ständiger Rechtsprechung die Einbeziehung steuerrechtlicher Verfahren in den Schutzbereich des Art.6 MRK abgelehnt. ...
      3. Dieser rechtlichen Wertung steht nicht entgegen, daß bei bestimmten Verfahren die überlange Verfahrensdauer entsprechend der Eigenart des jeweiligen Verfahrens in besonders gelagerten Ausnahmefällen auch Auswirkungen auf die Sachentscheidung in diesem Verfahren haben kann. ... [Zum Strafverfahren vgl. 1112 - Art.6 Abs.1 Satz 1 (Verfahrensdauer) (87/1, 87/2, 88/1, 89/1)] ... Für das finanzgerichtliche Verfahren folgt hieraus, daß die Dauer des Verfahrens als solche weder dem Grunde noch der Höhe nach Auswirkungen auf die geltend gemachten Steueransprüche haben kann. Im Besteuerungsverfahren geht es um die Durchsetzung eines vom Steuergläubiger behaupteten, vom Steuerbürger jedoch bestrittenen Steueranspruchs. Besondere Belastungen persönlicher oder wirtschaftlicher Art, die über die mit jeder Prozeßführung zwangsläufig verbundenen Belastungen und über die Belastungen durch die Steuerzahlung als solche hinausgehen, sind mit dem Verfahren im allgemeinen und auch im Streitfall nicht verbunden.