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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.92/1

[a] Eine Strafaussetzung zur Bewährung kann nach §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB widerrufen werden, wenn das Gericht in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise überzeugt ist, daß der Verurteilte in der Bewährungszeit eine erneute Straftat begangen hat, selbst wenn er dafür noch nicht rechtskräftig verurteilt worden ist.

[b] Erklärungen, die die Bundesregierung im Rahmen einer gütlichen Regelung nach Art.28 Abs.1 Buchst.b EMRK zur Erledigung einer Individualbeschwerde abgibt, binden die Gerichte außerhalb des dem Vergleich zugrunde liegenden Verfahrens nicht.

[a] The suspension of a sentence on probation may be revoked pursuant to sec.56f (1) (1) (1) of the Criminal Code, if the court is convinced beyond reasonable doubt that the probationer has committed a new criminal offense during the probation period, even though he or she has not yet been finally convicted of this new offense.

[b] Statements made by the federal government when entering into a friendly settlement of an individual petition pursuant to Art.28 (1) (b) of the European Convention on Human Rights will not bind the courts when dealing with cases not covered by the settlement.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluß vom 29.1.1992 (2 Ws 18/92), NJW 1992, 1183 (ZaöRV 54 [1994], 527)

Einleitung:

      Der Beschwerdeführer (Bf.) war zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Innerhalb der Bewährungsfrist soll er eine weitere Straftat verübt haben, die er gestanden hat und wegen der er erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Vor Eintritt der Rechtskraft dieser erneuten Verurteilung widerrief das Landgericht die frühere Strafaussetzung zur Bewährung. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Der auf §56f Abs.1 Nr.1 StGB gestützte Bewährungswiderruf erfolgte im Ergebnis zu Recht, da der Bf. innerhalb der ... Bewährungszeit eine Straftat begangen und dadurch gezeigt hat, daß sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat. Der Bf. hat das Verbrechen des Raubes glaubhaft gestanden. ... Der im Widerrufsverfahren ohne mündliche Verhandlung getroffenen Feststellung des Senats, daß der Bf. ... einen Raub begangen hat, steht nicht die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde, Verfassungsrang beanspruchende Unschuldsvermutung entgegen. Insbesondere liegt auch kein Verstoß gegen Art.6 Abs.2 EMRK vor, wonach bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten ist, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Die Ausgestaltung des zur Schuldfeststellung führenden Ermittlungsverfahrens ist dem nationalen Gesetzgeber überlassen. Dieser hat in §453 StPO bestimmt, daß die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß zu treffen sind. Wenn das Gericht hiernach aufgrund der Aktenlage und nach Anhörung des Bf. in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise zu der Überzeugung gelangt, daß der Verurteilte eine erneute Straftat begangen hat, so steht dies im Einklang mit der Verfassung und Art.6 Abs.2 EMRK. Demgegenüber bedarf es nicht der rechtskräftigen Verurteilung wegen der neuen Straftat ...
      Die vordringende, eine rechtskräftige Verurteilung als Widerrufsvoraussetzung fordernde Auffassung beruht im wesentlichen auf dem Ausgang des Verfahrens vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte in der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Individualbeschwerde Nr.12748/87 (vgl. Ostendorf, StrVert 1990, 230 [231]). Der dortige Bf. hatte sich gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gewandt, der aufgrund eines noch nicht rechtkräftig festgestellten Betäubungsmitteldelikts erfolgt war. Sofortige Beschwerde und Verfassungsbeschwerde waren erfolglos geblieben. Die Bundesregierung hat sodann unter Vermittlung der Kommission mit dem Bf. eine gütliche Regelung gem. Art.28b EMRK getroffen und dabei nachfolgende Erklärung abgegeben:
      "... 2. Die Bundesregierung wird die Landesjustizverwaltung darauf hinweisen, daß bei der künftigen Anwendung des §56f Abs.1 Nr.1 StGB die Unschuldsvermutung gem. Art.6 Abs.2 der Konvention zu beachten ist. 3. Die Bundesregierung wird im Zusammenwirken mit den Ländern prüfen, ob durch eine Änderung des §56f Abs.1 Nr.1 StGB sicherzustellen ist, daß der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in solchen Fällen nicht mit Art.6 Abs.2 der Konvention kollidiert."
      An diese Erklärung sind die Gerichte außerhalb des dem Vergleich zugrundeliegenden Verfahrens nicht gebunden. Die Erklärung der Bundesregierung läßt zudem nicht erkennen, ob eine Kollision mit Art.6 Abs.2 EMRK bereits allgemein für den Fall angenommen wurde, daß der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gem. §56f Abs.1 Nr.1 StGB ohne eine entsprechende rechtskräftige Verurteilung erfolgte. Es kommt somit in Betracht, daß die Bundesregierung lediglich der Besonderheit des Einzelfalles Rechnung tragen wollte. Eine Änderung der einschlägigen Bestimmungen der §§56f Abs.1 Nr.1 StGB, 453 StPO ist bislang nicht erfolgt. Dem Ausgang des vorstehend dargestellten Verfahrens vor der Europäischen Kommission vermag der Senat im vorliegenden Fall daher keine Bedeutung zuzumessen.

Hinweis:

      Vgl. auch OLG Düsseldorf, OLGSt 1992, 39: Die Einstellung des neuen Strafverfahrens wegen geringer Schuld nach §153a StPO hindere nicht daran, die neue Straftat zum Anlaß für Maßnahmen nach §56f Abs.1 oder Abs.2 StGB zu nehmen.