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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.3 lit.a EMRK

Nr.92/1

Aus Art.6 Abs.3 Buchst.a EMRK ergibt sich kein Anspruch auf schriftliche Übersetzung der Anklageschrift. Eine mündliche Übersetzung in der Hauptverhandlung reicht aus, wenn dies das Recht des Angeklagten auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung (Art.6 Abs.3 Buchst.b EMRK) nicht beeinträchtigt.

Art.6 (3) (a) of the European Convention on Human Rights does not give rise to a claim to have a written translation of one's indictment. An oral translation during the trial will suffice, if this does not impair the right of the accused to have adequate time and facilities for the preparation of his or her defense (Art.6 (3) (b) of the European Convention).

Oberlandesgericht Hamburg, Beschluß vom 14.9.1992 (2 Ws 396/92 H), NStZ 1993, 53 (ZaöRV 54 [1994], 529)

Einleitung:

      Das Oberlandesgericht hatte gemäß §§121, 122 Abs.1 StPO darüber zu entscheiden, ob der Vollzug der gegen den Angeklagten angeordneten Untersuchungshaft aus wichtigem Grund länger als sechs Monate aufrechterhalten werden durfte. Dabei war die Verfahrensverzögerung in Rechnung zu stellen, die sich daraus ergeben hatte, daß die Hauptverhandlung für etwa drei Wochen ausgesetzt worden war, weil man im Zwischenverfahren dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten die Anklageschrift ohne Übersetzung mitgeteilt hatte.

Entscheidungsauszüge:

      Allerdings war es rechtsfehlerhaft, dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten die Anklageschrift ohne Übersetzung in die polnische Sprache mitzuteilen. Nach zutreffender herrschender Meinung ... haben sprachunkundige Ausländer bei der Mitteilung der Anklageschrift i.S. des §201 StPO einen Anspruch auf eine Übersetzung. ... Aufgrund der vorgenannten fehlerhaften Sachbehandlung war es jedoch nicht geboten, die Hauptverhandlung ... auszusetzen. Zumindest aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden prozessualen Sachverhaltes hätte es ausgereicht, die Anklage in der Hauptverhandlung ... zu übersetzen, so daß der voraufgegangene Fehler sich nicht auf die Dauer der U-Haft ausgewirkt hätte.
      Nach vom OLG Düsseldorf (VRS 68, 119, 120 ...) vertretener Auffassung kann die Unterlassung, die Anklageschrift in einer dem Angeklagten verständlichen Sprache mitzuteilen, nicht gerügt werden, wenn die Anklage in der Hauptverhandlung durch einen Dolmetscher übersetzt worden ist. Nach anderer Auffassung reicht eine Übersetzung erst in der Hauptverhandlung nicht aus (LG Heilbronn, StV 1987, 192 ...).
      ... Der als einfaches Bundesrecht geltende Art.6 Abs.3 Buchst.a EMRK gebietet keine schriftliche Übersetzung der Anklage ... Ob eine mündliche Übersetzung in der Hauptverhandlung ausreicht, beantwortet sich deshalb danach, ob die Funktionen einer Mitteilung der Anklageschrift im Einzelfall erfüllt sind. §201 StPO soll über den Anklagevorwurf unterrichten und dazu auffordern, die Initiative zur Verteidigung im Zwischenverfahren zu ergreifen ... Die letztgenannte Funktion ist vorliegend durch eine nur mündliche Übersetzung in der Hauptverhandlung nicht beeinträchtigt, da der gewählte Verteidiger ... erklärt hatte, es werde u.a. auf Einlassungsfristen verzichtet ...
      Die gebotene Kenntnis des Angeklagten vom Gegenstand der Anklage kann grundsätzlich auch eine mündliche Übersetzung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung verschaffen. Ihre Grenzen findet eine solche Möglichkeit aber darin, daß der Angeklagte die Anklage inhaltlich verstehen und gegebenenfalls mit seinem Verteidiger vor Verhandlung zur Sache erörtern können muß, um im Sinne des Art.6 Abs.3 Buchst.b EMRK ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu haben. Vorliegend kannte der Angeklagte den leicht überschaubaren Gegenstand des Verfahrens dem Grunde nach bereits aus drei polizeilichen und drei richterlichen Vernehmungen ...
      Hat somit die im Zwischenverfahren unterlaufene fehlerhafte Sachbehandlung die Aussetzung der Hauptverhandlung ... nicht erfordert, ist die gleichwohl beschlossene Aussetzung und Neuterminierung ... dennoch vertretbar und geeignet, als anderer wichtiger Grund die Fortdauer der U-Haft zu rechtfertigen ...