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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.8 EMRK

Nr.91/1

Die Observation der Wohnungstür eines Verdächtigen mittels Videoaufzeichnung stellt einen Eingriff in die Privatsphäre (Art.8 Abs.1 EMRK) dar und bedarf daher im Hinblick auf Art.8 Abs.2 EMRK einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage.

The observation of a suspect's apartment door by way of a video recording constitutes an interference in this person's right to privacy (Art.8 (1) ECHR) and therefore requires a sufficient legal basis, in accordance with Art.8 (2) ECHR.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 14.5.1991 (1 StR 699/90), NStZ 1992, 44 mit Anmerkung von K. Rogall (ZaöRV 53 [1993], 418).

Einleitung:

      Der Angeklagte war in Verdacht geraten, Brandstiftungen zu begehen. Um Beweismittel zu erlangen, installierte die Polizei ohne sein Wissen eine Videokamera, die auf seine Wohnungstür eingestellt war. Damit wurde mehrere Monate lang jedes Verlassen und Betreten der Wohnung aufgezeichnet. Aufgrund dieser Aufzeichnungen wurde der Angeklagte wegen Brandstiftung verurteilt. Seine Revision begründete der Angeklagte damit, daß die Videoaufzeichnungen mangels gesetzlicher Grundlage nicht hätten angefertigt und deshalb auch im Hinblick auf Art.8 EMRK nicht hätten verwertet werden dürfen. Die Revision blieb ohne Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      IV. ... Grundlage des polizeilichen Handelns im vorliegenden Fall war (jedenfalls auch) Art.2 Abs.1 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes. Nach dieser Vorschrift hat die Polizei die Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Dementsprechend war die Polizei bestrebt, den vielfachen Brandstifter - den sie in dem Angeklagten vermutete - zu entlarven und auf diese Weise weitere Brandlegungen zu verhindern. ... Ob die generelle Vorschrift des Art.2 Abs.1 BayPAG heute noch geeignet wäre, eine Observation in der geschehenen Weise zu rechtfertigen, kann dahinstehen. Manches spricht dafür, daß eine solche Observation einen Eingriff in die Privatsphäre darstellt, der eine spezielle gesetzliche Eingriffsnorm voraussetzt (Art.8 MRK), und daß als solche Norm weder Art.2 BayPAG (noch §§160, 161, 163 StPO) ausreichen; denn das Gesetz muß sowohl die Voraussetzungen als auch Art und Umfang des Eingriffs klar und eindeutig formulieren, wobei freilich nicht verkannt werden darf, daß "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art.8 MRK nicht nur das ist, was ein Gesetz im formellen Sinn regelt, sondern daß hier der gesamte Rechtszustand in dem betreffenden Staat einschließlich der (ins einzelne gehenden, insgesamt ein geschlossenes System bildenden) Rechtsprechung gemeint ist ... Daß zur Privatsphäre auch das Betreten und Verlassen der eigenen Wohnung gehöre und ein behördlicher Eingriff jedenfalls in der monatelangen verdeckten Aufzeichnung dieser Vorgänge zu erblicken sei, hat vieles für sich ...
      Das aus Art.2 Abs.1 i.V. mit Art.1 Abs.1 GG sich ergebende allgemeine Persönlichkeitsrecht kann zum selben Ergebnis führen wie Art.8 MRK. Ausfluß dieses Rechts kann auch die Freiheit persönlicher Lebensgestaltung ohne - noch dazu heimliche - langdauernde behördliche Überwachung sein ...
      Im Schrifttum, aber auch von den gesetzgebenden Gremien und den mit dieser Materie befaßten Ministerien ist erkannt worden, daß nach heutiger Auffassung fraglich ist, ob die polizeirechtliche allgemeine Aufgabenklausel oder §§160, 161, 163 StPO Eingriffe der hier vorliegenden Art abdecken ... Deshalb haben das Saarland (Gesetz v.8.11.1989, ABl. des Saarlandes S.1750) und die Länder Nordrhein-Westfalen (Gesetz v.24.2.1990, GVBl. S.70), Hessen (Gesetz v.26.6.1990, GVBl. S.197) und Bayern (Gesetz v.14.9.1990, GVBl. S.397) neue polizeirechtliche Bestimmungen erlassen, die u.a. die planmäßig angelegte Beobachtung einer Person über einen längeren Zeitraum und den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufzeichnungen regeln. Das Bundesinnenministerium der Justiz hatte erstmals in dem Referentenentwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1988 Vorschriften über die längerdauernde Observation eines Beschuldigten und die Herstellung von Bildaufzeichnungen ohne Wissen des Beschuldigten vorgesehen (§§163f, 163g StPO), doch ist es bis heute beim Entwurf geblieben.
      Obwohl zu der hier interessierenden Zeit (Juli 1987 bis Januar 1988) noch nirgends eine solche spezielle gesetzliche Regelung bestand, besteht doch kein Anlaß, das Urteil aufzuheben. Die Erkenntnis, daß es hier möglicherweise besonderer gesetzlicher Regelungen bedürfe, ist vergleichsweise neu; sie entstand wesentlich aufgrund des "Volkszählungsurteils" des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983 (BVerfGE 65,1) und der sich anschließenden rechtswissenschaftlichen Diskussion und mußte sich erst durchsetzen. Bis dahin entsprach es allgemeiner Rechtsüberzeugung, daß Observationen, auch solche langfristiger Art, durch den allgemeinen Gefahrenverhütungs- und Ermittlungsauftrag von Polizei und Staatsanwaltschaft, im einzelnen näher bestimmt durch die umfangreiche verwaltungsrechtliche und strafprozessuale Rechtsprechung, gedeckt seien. In solchem Fall ist dem Gesetzgeber einerseits, den Behörden andererseits ein gewisser Übergangszeitraum einzuräumen ... Er war Ende 1987/Anfang 1988 noch nicht abgelaufen. Inzwischen sind die erforderlichen (hier: bayerischen) gesetzlichen Bestimmungen geschaffen worden; für die Zukunft ist die Rechtslage geklärt. Unter diesen Umständen hängt die Zulässigkeit der hier in Frage stehenden Ermittlungsmaßnahmen auch nicht davon ab, daß sie so abliefen, wie es der inzwischen neu geschaffenen Gesetzeslage entsprochen hätte. Auch ohne diese Kongruenz sind sie hinzunehmen, zumal sich zum einen der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Grenzen hielt - es fand keine Observation rund um die Uhr statt; es wurde nur die Wohnungstür, nicht das Geschehen in der Wohnung selbst aufgezeichnet -, zumal zum anderen ... der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist ... Die dem Angeklagten zur Last gelegten Brandstiftungen hatten nicht nur sehr großen Sachschaden zur Folge ..., sondern brachten auch zahlreiche Bewohner ... in Leibes-. ja Lebensgefahr. Für die Täterschaft des - einschlägig vorbestraften - Angeklagten sprachen erhebliche Indizien. ... Ist die geschehene Überwachung jedenfalls aus polizeirechtlichen Gründen hinzunehmen, so sind ihre Ergebnisse auch im Strafverfahren als Beweismittel verwertbar, obwohl in der Strafprozeßordnung bisher eine Vorschrift über diese besonderen Ermittlungsmaßnahmen fehlt.