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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1130. SONSTIGE INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSNORMEN

Allgemeines

Nr.91/1

Finanzielle Aufwendungen für den Freikauf aus einem Staat, der das elementare Menschenrecht der Ausreisefreiheit nicht gewährt, können als außergewöhnliche Belastung (§33 EStG) steuerlich abzugsfähig sein.

Expenditures incurred to "buy" one's exit visa from a state which does not grant the fundamental human right to leave one's own country can be deductible as extraordinary expenses under §33 of the Income Tax Act.

Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Oktober 1991 (2 K 141/86), EFG 1992, 271 (ZaöRV 53 [1993], 367).

Einleitung:

      Der Kläger hatte als Rumäniendeutscher in der Ceauscescu-Zeit die Ausreise nach Deutschland für sich und seine Familie durch eine hohe Geldsumme erkauft. Das Geld hatte ihm sein Schwager vorgestreckt. Einen ersten Teilbetrag zahlte der Kläger im Jahre 1984 zurück. Diesen Betrag machte er bei seiner Einkommensteuererklärung als "außergewöhnliche Belastung" i.S. des §33 EStG geltend. Dies erkannte das Finanzamt jedoch nicht an.

Entscheidungsauszüge:

      Die Klage ist begründet, da dem Kläger die geltend gemachten Aufwendungen sowohl aus einer tatsächlichen Zwangslage als auch aus einer sittlichen Verpflichtung gegenüber seiner Ehefrau und seinen Kindern heraus erwachsen sind. ...
      Nach Art.13 Abs.2 der UN-Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 hat jeder Mensch das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren (ebenso Art.2 Abs.2 des Zusatzprotokolls vom 16. September 1963 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte). Art.1 Abs.1 GG rückt den Schutz der Menschenwürde als obersten Wert der Verfassung in den Mittelpunkt des Grundrechtsschutzes. In Art.1 Abs.2 GG bekennt sich das deutsche Volk zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Eine an dieser Grundwertung der Verfassung orientierte Auslegung des §33 EStG führt zu dem Ergebnis, daß Menschen sich i.S. dieser Vorschrift in einer tatsächlichen Zwangslage befinden, wenn sie in einem Staat leben, der seinen Bürgern unter Mißachtung rechtsstaatlicher Verfahren elementare Menschen- und Freiheitsrechte vorenthält und ihnen auch nicht das Menschenrecht auf Ausreisefreiheit gewährt. Aufwendungen, die ein Bürger dieses Staates tätigt, um sich und seiner Familie das Verlassen dieses Landes zu ermöglichen, sind ihm daher aus einer tatsächlichen Zwangslage i.S. von §33 Abs.2 EStG heraus erwachsen. Im Verhältnis zu seinen Familienangehörigen - insbesondere seinen Kindern - trifft ihn außerdem die sittliche Pflicht i.S. von §33 Abs.2 EStG, alle ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihnen die Ausreise aus einem solchen Staat und eine Zukunft in einem Land zu ermöglichen, das die Menschenrechte achtet. ...
      Der Bundesfinanzhof hat - soweit ersichtlich - zu der vorliegenden Streitfrage, ob Ausreisekosten aus einem ehemaligen Ostblockstaat als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sind, bisher noch nicht Stellung genommen. ... Im Urteil vom 26. April 1991 ... (BFHE 164, 426 ...) hat der BFH Aufwendungen für die Wiederbeschaffung von Hausrat eines Ehepaares tschechischer Volkszugehörigkeit, das sein Heimatland ohne amtliche Genehmigung verlassen hatte und in der Bundesrepublik als asylberechtigt anerkannt worden war, nicht als außergewöhnliche Belastung i.S. von §33 EStG berücksichtigt, da der Hausrat nicht durch ein unabwendbares Ereignis verloren gegangen sei. Ein unabwendbares Ereignis liege - neben Krieg, Naturkatastrophen, Brand und ähnlichem - auch vor, wenn der Steuerpflichtige aus Gründen politischer Verfolgung sein Heimatland verlassen habe. Voraussetzung sei in diesem Fall jedoch, daß ein Verbleiben im Heimatland mit Gefahren für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit verbunden sein.
      Demgegenüber geht der BFH im Urteil vom 10. Juni 1988 ... (BFHE 154, 53 ...) im Rahmen der Prüfung der Frage, ob Aufwendungen für die Wiederbeschaffung von Hausrat als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sind, in einem Fall eines deutschstämmigen Spätaussiedlers aus Polen ohne weiteres davon aus, daß ein Zwangslage i.S. von §33 Abs.2 EStG zum Verlassen des Heimatlandes vorlag. Die Frage, ob eine Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit des Spätaussiedlers bestanden hat, prüft der BFH in diesem Urteilsfalle nicht.
      Der Senat ist der Auffassung, daß die zur Wiederbeschaffung von Hausrat vom BFH aufgestellten Rechtsgrundsätze nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar sind. Die Zwangslage, in der sich Menschen befinden, die in einem Staat leben, der die Menschenrechte mißachtet, ist ungleich größer als diejenige dessen, dem das Verlassen eines solchen Staates bereits gelungen ist und der nunmehr Hausrat und Bekleidung wiederbeschaffen muß. Während letzterer bereits in Freiheit lebt, muß ersterer sie sich erst erkämpfen oder - wie im vorliegenden Fall - erkaufen. Denn unter Berücksichtung der Wertungen des Art.1 Abs.2 GG kann ihm nicht zugemutet werden, die fortdauernde Verletzung seines verbürgten Menschenrechtes auf Ausreisefreiheit hinzunehmen und auf unabsehbare Zeit in einem Staat zu leben, der die Menschenrechte mißachtet.
      Die von der Rechtsprechung der Finanzgerichte aufgestellten überaus strengen Voraussetzungen für die Anerkennung der Zwangsläufigkeit von Ausreisekosten berücksichtigen nicht die bedrückende menschenrechtswidrige Lebenswirklichkeit in solchen Staaten. Bürgern eines solchen Landes, deren Leben oder persönliche Freiheit aufgrund staatlicher Maßnahmen konkret gefährdet ist, gelingt nur in seltenen Fällen die Ausreise, und - wenn überhaupt - nur durch Zahlung extrem hoher Freikaufsummen ... Die für Bewohner eines solchen Staates stets vorhandene Gefahr, ohne eine rechtsstaatliches Verfahren inhaftiert zu werden, kann sich - etwa aufgrund einer Denunziation oder politischer Opportunität o.ä. - sehr rasch zu einer konkreten Gefahr verdichten. Für eine Ausreise ist es dann zu spät ...
      Dem Kläger kann auch nicht entgegengehalten werden, er habe diese Situation durch die Stellung der Ausreiseanträge und damit durch ein in seinem Verantwortungsbereich liegendes Verhalten herbeigeführt. Aus der Sicht der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, die sich in Art.1 Abs.2 GG verpflichtet hat, den Menschenrechten Geltung zu verschaffen, kann bei der Anwendung innerstaatlichen Rechts nicht zum Nachteil des Betroffenen berücksichtigt werden, daß er in einem anderen Land das grundlegende Menschenrecht der Ausreisefreiheit für sich in Anspruch genommen hat. Die Aufwendungen für die Ausreiseerlaubnis sind dem Kläger daher zwangsläufig i.S. von §33 EStG erwachsen. Sie waren notwendig, um die Ausreiseerlaubnis in einem im Verhältnis zur Lebenszeit des Klägers und seiner Familienangehörigen absehbaren Zeit zu erhalten.