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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1300. INTERNATIONALES UMWELTRECHT

Nr.87/1

Zur privatrechtlichen Haftung der Sowjetunion für Vermögensschäden, die durch den Reaktorunfall in Tschernobyl entstanden sind.

On the private law liability of the Soviet Union for property damage caused by the reactor accident at Chernobyl.

Amtsgericht Bonn, Beschluß vom 29.9.1987 (9 C 362/86), NJW 1988, 1393 (s.470 [87/1])

Einleitung:

      S.470 [87/1]. Das Amtsgericht verneinte auch die Begründetheit der beabsichtigten Klage.

Entscheidungsauszüge:

      Der Antragsteller kann gegen die Sowjetunion, vertreten durch die zuständige Behörde, keine Ansprüche aus möglichen völkerrechtlichen Verträgen herleiten. Diese ist in keinem Fall Vertragspartnerin der Bundesrepublik geworden.
      Er kann ferner keine Ansprüche aus allgemeinem Völkerrecht geltend machen. Der Antragsteller hat vorgetragen, die Sowjetunion habe ihr obliegende Informations- und Unterrichtungspflichten wegen des Ereignisses am 26.4.1986 nicht beachtet. Diese möglichen Pflichtverletzungen begründen aber keinen Ersatzanspruch für den Antragsteller. Zwar bestehen staatliche, völkerrechtliche Informationspflichten, deren Nichtbeachtung zu Ersatzansprüchen führen kann ... Diese Pflichten bestehen als völkerrechtlich begründete Pflichten nur und unmittelbar zwischen den Völkerrechtssubjekten. Mit der Nichtbeachtung dieser völkerrechtlich begründeten Aufklärungs-, Warn- und Informationspflichten wird ggf. ein völkerrechtlicher Unrechtstatbestand verwirklicht, der den Wirkungsstaat, hier die Bundesrepublik, als solchen in seinen eigenen Rechten auf und aus staatlicher Integrität verletzt. Diesbezügliche Ersatzansprüche geltend zu machen, ist deshalb nur der Staat selbst, nicht aber das Einzelindividuum berechtigt ...
      Der Antragsteller kann weiterhin keinen Ersatzanspruch gemäß §25 Abs.1 AtomG i.V. mit Art.2 des Pariser Übereinkommens vom 16.11.1982 geltend machen, da die Sowjetunion nicht Unterzeichner dieses Übereinkommens ist. Auch ein Anspruch allein aus §25 Abs.1 AtomG kommt für den Antragsteller gegen die Sowjetunion ... nicht in Betracht. Dessen tatbestandliche Voraussetzungen sind in der Person der Antragsgegnerin nicht alle erfüllt. Zwar wäre §25 AtomG als Haftungsnorm für den entsprechenden Rechtsstreit einschlägig und anwendbar. Dies ergibt sich aus der international-privatrechtlichen Handhabung bei Distanzdelikten. Danach herrscht bei solchen Delikten, bei denen Handlungs- und Erfolgsort räumlich und zeitlich getrennt liegen, das Ubiquitätsprinzip. Der Geschädigte hat die Wahl der ihm günstigeren Rechtsordnung ... Der Antragsteller hat das deutsche Schadensersatzrecht als das ihm günstigere gewählt; diese Wahlmöglichkeit steht ihm offen.
      Der in §25 Abs.1 AtomG begründete Ersatzanspruch kann aber nicht gegen die Sowjetunion ... geltend gemacht werden, da diese nicht Inhaberin der Kernanlage i.S. des §35 Abs.2 AtomG ist. Gemäß §25 AtomG ist nur der Inhaber der Kernanlage zum Ersatz des Schadens verpflichtet (Prinzip der rechtlichen Kanalisierung). Entsprechend der Definition der Anlage 1 zum Atomgesetz ist Inhaber der Kernanlage derjenige, der von der zuständigen Behörde als Inhaber einer solchen bezeichnet oder angesehen wird. Damit wird beachtlich, wer der Adressat staatlicher Maßnahmen und Entscheidungen jedweder Art in bezug auf Kernanlagen ist. Die Antwort darauf ergibt sich aus dem sowjetischen Verwaltungsaufbau. Dieser ist mehrschichtig strukturiert. Auftraggeber bei der Errichtung von Kernkraftwerken ist das "Ministerium der UdSSR für Energetik und Elektrifizierung" ... Aufsichtsfunktion nimmt eine Allunionsvereinigung für Atomenergie wahr ... Adressat sowohl der Beauftragung mit der Errichtung als auch der aufsichtsrechtlichen Maßnahmen ist eine dritte Einrichtung, die AES Tschernobyl. Dies ist eine selbständige juristische Person, die mit eigenem Vermögen ausgestattet ist und mit diesem für verursachte Schäden haftet ... Damit ist diese auch Inhaberin der Kernanlage Tschernobyl, jedenfalls im Sinn und nach der Bedeutung des §25 AtomG ... Ein Ersatzanspruch gemäß §25 Abs.1 AtomG käme danach nur gegen die AES als Inhaberin der Kernanlage im Sinne des Atomgesetzes, nicht aber gegen die Antragsgegnerin ... in Betracht.
      Der Antragsteller macht einen deliktischen Anspruch geltend. Dieser ergibt sich auch nicht aus §823 Abs.1 BGB. Zwar ist §823 Abs.1 grundsätzlich anwendbar. Insofern gilt das oben zum Ubiquitätsprinzip und zum Prinzip der elektiven Konkurrenz Ausgeführte entsprechend. Allerdings kann der Antragsgegnerin das schädigende Verhalten im Bereich der "AES Tschernobyl" nicht zugerechnet werden. Dies ergibt sich wiederum aus der hinreichenden Mediatisierung in der sowjetischen Energiewirtschaft. Die AES ist eine selbständige juristische Person des Privatrechts ... Nur die AES ist für die Handlungen im Kernkraftbetrieb und damit auch für die, die zum schädigenden Ereignis am 26.4.1986 geführt haben, verantwortlich. Die Zurechenbarkeit planungsrechtlicher Fehler und daraus entstandener möglicher Schäden gehört nicht in diesen Zusammenhang ...
      [Der Antragsteller] hat ... die Ansicht vertreten, bei deliktischem Handeln von Staatsunternehmen finde auf jeden Fall ein unmittelbarer Haftungsdurchgriff auf den Staat statt. Ein solcher Haftungsdurchgriff läßt sich im vorliegenden Zusammenhang indes nicht begründen ... Die Durchsetzung innerstaatlicher Kontrollmaßstäbe im Rahmen des ordre public erfordert es ..., als Maßstab, allerdings restriktiv und die Eigenarten der fremden Rechtsordnungen betrachtend, das deutsche Recht zum Haftungsdurchgriff heranzuziehen ...
      Im deutschen Recht wird die Durchgriffshaftung vor allem im Konzernrecht diskutiert ... Nach keiner der in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für den Haftungsdurchgriff kommt dieser für den vorliegenden Fall in Betracht. Zum einen ist dies nicht unter dem Gesichtspunkt der Beherrschung des Staatsunternehmens - ein solches ist die Kernanlage zweifellos - durch den Staat der Fall. In diesem Fall müßten Kapitalbesitz und Verwaltungsorganisation auf das engste miteinander verflochten sein, so daß der beherrschten Gesellschaft praktisch überhaupt kein eigener Entscheidungsspielraum mehr verbleibt ... Zum einen spricht die mediatisierte Verwaltungsstruktur generell gegen eine solche starke Form der Beherrschung. Zum anderen hat der Antragsteller nichts vorgetragen, was die Behauptung einer solch vollständigen Beherrschung tragen würde. In diesem Zusammenhang ist beachtlich, daß der sozialistische Rechtskreis nicht ohne weiteres die völlige Beherrschung der Staatsbetriebe, soweit diese privatrechtlich organisiert sind, durch den Staat impliziert. Soweit die Rechtsordnungen des sozialistischen Rechtskreises ihren verselbständigten Betrieben ein hinreichendes Maß an organisatorischer Unabhängigkeit, finanzieller Autonomie und geschäftlicher Entscheidungsfreiheit gewähren, kommt ein Haftungsdurchgriff wegen Beherrschung nicht in Betracht ... Hätte der Antragsteller vorgetragen, daß die AES überwiegend mit weisungsabhängigen Regierungsorganen und Staatsbeamten besetzt wäre, so könnte eine andere Bewertung möglich sein. Solches wurde aber nicht einmal pauschal, geschweige denn substantiiert vorgetragen.
      Auch hinsichtlich des Haftungsdurchgriffs wegen Unterkapitalisierung der beherrschten Gesellschaft ergibt sich kein anderes Ergebnis ... Entsprechendes gilt für die Durchgriffsvoraussetzungen der Vermögensvermischung ebenso wie des Rechtsscheins der persönlichen Haftung der Antragsgegnerin ...
      Der Antragsteller kann gegen die UdSSR ... keine Amtshaftungsansprüche geltend machen, da diese bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeit entstanden wären und deshalb der staatlichen Immunität unterliegen würden. Insgesamt bietet somit seine Klage keine Aussicht auf Erfolg.