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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1500. DEUTSCHLANDS RECHTSLAGE NACH 1945

Nr.86/1

Nach §170b StGB macht sich auch eine in der Bundesrepublik lebende Person strafbar, die ihre Unterhaltspflicht gegenüber ihrem in der DDR lebenden Kind verletzt.

A person living in the Federal Republic of Germany is criminally liable under Sec.170b of the Penal Code for failure to provide support to his or her child living in the German Democratic Republic.

Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil vom 7.2.1986 (1 Ss 17/86), Die Justiz 1986, 199 (ZaöRV 48 [1988], 86)

Einleitung:

      Der Angeklagte ist der leibliche Vater des am 21.1.1966 in Frankfurt/Oder geborenen A. Er hat seine Vaterschaft anerkannt und sich urkundlich verpflichtet, seinem nach wie vor in der DDR lebenden Sohn monatlich 60,-- DM Unterhalt zu zahlen. Im Dezember 1972 gelangte er in die Bundesrepublik und wurde später wegen Verletzung der Unterhaltspflicht (§170b StGB) angeklagt.

Entscheidungsauszüge:

      Die Vorschrift des §170b StGB ist auch anzuwenden, wenn der Unterhaltsberechtigte in der DDR lebt. Da der Angekl. seiner Unterhaltsverpflichtung vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus hätte nachkommen müssen, handelt es sich um eine Inlandstat (§§3, 9 Abs.1 2. Alternative StGB). Allerdings ist auch eine im Inland begangene Tat nicht strafbar, wenn eine Vorschrift allein dem Schutz inländischer Rechtsgüter dient, die Tat dagegen nur ein ausländisches Rechtsgut verletzt hat ... Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor. ...
      Der Schutz der fiskalischen Belange der DDR gehört nicht zu den Aufgaben des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland. Die Sozialbehörden der DDR, die völkerrechtlich als ein Staat (vgl. BVerfGE 36, 1 (22)) zu behandeln ist, der auf seinem Staatsgebiet Hoheitsgewalt ausübt und dessen Unabhängigkeit in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten zu respektieren ist (BVerfG aaO S. 27), sind keine inländischen Behörden ...
      Jedenfalls ist das Interesse des in der DDR lebenden Unterhaltsberechtigten an der Sicherung seines materiellen Lebensbedarfes als ein inländisches Rechtsgut zu behandeln. Das Kind des Angekl. ist - unabhängig von seinem in der DDR gelegenen Wohnsitz - "Deutscher" im Sinne der Art.16, 116 Abs.1 GG (BVerfGE 36, 1 (30f.)). An dieser Rechtslage hat auch der Grundlagenvertrag vom 8.11.1972 (BGBl. 1973, II S. 421) nichts geändert. Dies ergibt sich aus der von der Bundesregierung im Zusatzprotokoll zu dem Vertrag abgegebenen Erklärung, wonach Staatsangehörigkeitsfragen durch den Vertrag nicht geregelt worden sind.
      Die ... entwickelten Bedenken gegen die Anwendung des §170b StGB auf Unterhaltsberechtigte in der DDR ... stützen sich auf die staatliche Souveränität der DDR. Deutsche aus der DDR auf der Opferseite sollen danach internationalstrafrechtlich entsprechend dem zu §3 StGB entwickelten funktionalen Inlandsbegriff nur insoweit als Deutsche behandelt werden, als sie ihre Lebensgrundlagen in der Bundesrepublik haben oder sich sonst in deren Schutzbereich "aufhalten", weil andernfalls das Strafrecht der Bundesrepublik in eine "Globalkonkurrenz" zur Souveränität der DDR trete, in deren "Ordnungsgewalt" sie nicht eingreifen könne. Diese Kollisionsgefahr besteht jedoch nicht, wenn die Tat in der Bundesrepublik begangen und hier verfolgt wird. Dadurch wird eine Strafverfolgung durch DDR-Behörden, die in aller Regel auch gar nicht möglich sein wird, nicht in Frage gestellt. Der deutsche Unterhaltsberechtigte in der DDR erhält lediglich einen Schutz, der ihm sonst nicht gewährt werden könnte.
      Wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag (BVerfGE 36, 1, 30 ff.) an der nach wie vor bestehenden Schutzpflicht der Bundesrepublik für jeden Deutschen im Sinne des Art.116 GG festhält, sofern er "in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelangt", "in den Schutzbereich der Bundesrepublik gerät", ist dem nicht zu entnehmen, daß ein Deutscher aus der DDR diesen Schutz nur genießt, wenn er sich in der Bundesrepublik "aufhält"; Schutz und Fürsorge soll jeder Deutsche in diesem Sinne auch durch diplomatische Vertretungen, in internationalen Gremien und von jeder Dienststelle der Bundesrepublik erhalten, an die er sich wendet. Dazu bedarf es nicht des Aufenthalts in der Bundesrepublik. Ein Deutscher aus der DDR gerät auch dann in den Schutzbereich der Bundesrepublik - sie wird mit ihrer Schutzpflicht gefordert und kann die Schutzgewährung nicht der DDR überlassen -, wenn die Strafverfolgungsorgane der Bundesrepublik wegen einer im Inland begangenen Straftat ermitteln, die sich gegen einen Deutschen im Sinne des Art.116 GG richtet. Ob sich der Verletzte dazu mit einer Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft gewendet und um Schutz nachgesucht hat oder nicht, kann wegen des im Strafprozeß geltenden Offizialprinzips nicht den Ausschlag für die Schutzgewährung geben. Der Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten in der Bundesrepublik ist keine allgemeine Voraussetzung für die Anwendung des §170b StGB ...; nur den im Ausland lebenden Unterhaltsberechtigten, der nicht Deutscher ist, schützt die Vorschrift nicht, auch wenn der deutsche Unterhaltspflichtige im Inland lebt ... Nicht einzusehen ist, warum der in jedem beliebigen Land lebende, im Sinne des Art.116 GG deutsche Unterhaltsberechtigte geschützt werden soll, nur dann aber nicht, wenn er in der DDR lebt.
      Geändert hat sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit dem Grundlagenvertrag der territoriale Begriff des Inlands nach §3 StGB, der für den Tatort von Bedeutung ist, nicht aber das verfassungs- und strafrechtliche Verständnis davon, wer als "Deutscher" auf der Opferseite den strafrechtlichen Schutz der Bundesrepublik genießt (BGHSt 30, 1). Nicht aufgegeben ist der allgemeine Anspruch, auch den in der DDR "ansässigen" Deutschen Schutz zu gewähren (BGHSt 32, 293, 298). Offengelassen hat der BGH die auch hier nicht zu entscheidende allgemeine Frage, inwieweit eine Schutzpflicht besteht, wenn das Opfer in der DDR lebt und die Tat dort begangen wird; der Geltungsanspruch des Strafrechts der Bundesrepublik ist grundsätzlich auf die in der Bundesrepublik begangenen Straftaten beschränkt (BGHSt 32, 293, 297) ... Die Souveränität der DDR wird durch die Verfolgung einer in der Bundesrepublik begangenen Straftat nicht in Frage gestellt.

Hinweis:

      Zu demselben Ergebnis kam mit einer ähnlichen Begründung das BayObLG (Urt. v. 20.11.1986 - 3 St 92/86, BayObLGSt 1986, 131).