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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1500. DEUTSCHLANDS RECHTSLAGE NACH 1945

Nr.92/1

[a] Die Aufrechterhaltung der in Art.5 Abs.4 des Londoner Abkommens über deutsche Auslandsschulden angeordneten Klagesperre hinsichtlich von Ansprüchen der Staatsangehörigen ehemals mit dem Deutschen Reich verbündeter Staaten verstößt in der heutigen Zeit gegen Art.3 und 14 GG.

[b] Es fragt sich, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist, die Betroffenen völkerrechtswidriger Handlungen des deutschen Staates individuelle Ersatzansprüche eröffnet oder sperrt.

[a] The maintenance of the ban on filing suit, imposed by Art.5 (4) of the London Agreement on German External Debts with regard to claims of citizens of states which were allied with the German Reich, now violates Art.3 and 14 of the Basic Law.

[b] The question is whether there is a general rule of international law giving or denying individual claims for compensation to persons affected by acts of the German state that violated international law and whether such a rule is part of the federal law.

Landgericht Bremen, Beschluß vom 3.12.1992 (1 O 2889/1990 u.a.), JZ 1993, 633

Einleitung:

      Die Klägerinnen waren als Jüdinnen ungarischer oder rumänischer Staatsangehörigkeit während des zweiten Weltkriegs von Deutschland aus rassischen Gründen verfolgt und im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert worden. Von dort wurden sie nach Bremen gebracht und dort einige Monate lang als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt. Sie verlangen von der beklagten Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz für die ohne Vergütung geleistete Zwangsarbeit. Nach Auffassung des Landgerichts steht den Klagen Art.5 Abs.4 des Abkommens über deutsche Auslandsschulden vom 27.2.1953 (Londoner Schuldenabkommen - LSchA - BGBl.II S.333) entgegen. Weil es der Ansicht ist, daß diese Bestimmung nachträglich verfassungswidrig geworden sei, legt es die Angelegenheit dem Bundesverfassungsgericht nach Art.100 Abs.1 GG zur Entscheidung vor. Zugleich befaßt es das Bundesverfassungsgericht gemäß Art.100 Abs.2 GG mit der Frage, ob hinsichtlich individueller Entschädigungsansprüche von Zwangsarbeiterinnen allgemeine Regeln des Völkerrechts bestehen.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... 2. Der Durchsetzung der Ansprüche der Klägerinnen steht ... schon dem Grunde nach Art.5 Abs.4 LSchA entgegen, der folgenden Wortlaut hat: "Die gegen Deutschland oder deutsche Staatsangehörige gerichteten Forderungen von Staaten, die vor dem 1.9.1939 in das Reich eingegliedert oder am oder nach dem 1.9.1939 mit dem Reich verbündet waren, und von Staatsangehörigen dieser Staaten aus Verpflichtungen, die zwischen dem Zeitpunkt der Eingliederung (bei mit dem Reich verbündet gewesenen Staaten dem 1.9.1939) und dem 8.5.1945 eingegangen worden sind, oder aus Rechten, die in dem genannten Zeitraum erworben worden sind, werden gemäß den Bestimmungen behandelt, die in den einschlägigen Verträgen getroffen worden sind oder noch getroffen werden. Soweit gemäß den Bestimmungen dieser Verträge solche Schulden geregelt werden können, finden die Bestimmungen dieses Abkommens Anwendung."
      a) Die Klägerinnen waren im Zeitraum der von ihnen geleisteten Zwangsarbeit Staatsangehörige von ehemals mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten im Sinne des Art.5 Abs.4 LSchA. ... Der BGH hat wiederholt Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter (Angehöriger von Gläubigerstaaten im Sinne des Art.5 Abs.2 und 3 LSchA) auf Vergütung mit der Begründung zurückgewiesen, da Art.5 Abs.2 und 3 LSchA die Prüfung solcher Ansprüche bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt habe, sei in Ermangelung bislang getroffener derartiger Regelungen weder Raum für eine Leistungsklage noch in aller Regel für eine Feststellungsklage (... BGHZ 18, 22; ... BGH, ... NJW 1973, 1549).
      Nach Ansicht der Kammer beinhaltet Art.5 Abs.4 LSchA nach Wortlaut und Sinn ein Stundungsabkommen, da die Regelung von Forderungen der ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reiches bzw. ihrer Staatsangehörigen den Bestimmungen in einschlägigen Verträgen vorbehalten werden sollte, die bei Inkrafttreten des LSchA bereits geschlossen worden waren bzw. noch geschlossen werden sollten. Art.5 Abs.4 LSchA enthält somit - ebenso wie die Absätze 2 und 3 - einen Vorbehalt und Vorrang zugunsten zwei- oder mehrseitiger Verträge, ohne daß die Zurückstellung der Prüfung von Forderungen besonders betont zu werden brauchte. Derartige einschlägige Verträge zwischen den ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reichs und diesem bzw. der Beklagten gab und gibt es, soweit ersichtlich, nicht.
      Entgegen der Auffassung der Beklagten enthalten die Nebenfriedensverträge der Alliierten mit Ungarn und Rumänien aus dem Jahre 1947 keinen Forderungsverzicht wegen der hier in Rede stehenden Ansprüche im Verhältnis zur Beklagten und somit keine Regelungen im Sinne von Art.5 Abs.4 LSchA. Das ORG Berlin (RzW 1967, 57) hat diesbezüglich eingehend und überzeugend dargelegt, daß die in den Nebenfriedensverträgen ausgesprochenen Verzichtserklärungen jedenfalls nicht solche Ansprüche umfassen, die rassisch Verfolgten wegen bzw. aufgrund dieser Verfolgung erwachsen waren. Die Kammer nimmt auf diese Ausführungen Bezug und macht sie sich zu eigen.
      b) Das Gericht ist der Überzeugung, daß Art.5 Abs.4 LSchA mit der Verfassung nicht mehr zu vereinbaren ist, da die danach fortbestehende Klagesperre inzwischen gegen Art.14 und Art.3 GG verstößt.
      Der Zweck des Art.5 LSchA, den Vorrang (der Erfüllung) von Vorkriegs- und Nachkriegsschulden zu sichern und die Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik zu erhalten ..., rechtfertigt es nicht mehr, den Klägerinnen nach nunmehr über 47 Jahren Ansprüche für die geleistete Zwangsarbeit unter Hinweis auf den vorgenannten Zweck und/oder die nach wie vor fehlenden vertraglichen bzw. gesetzlichen Regelungen vorzuenthalten. Die sachlichen Voraussetzungen für eine am Zweck des Art.5 LSchA gegründete Klagesperre sind jedenfalls seit der letzten einschlägigen Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1973 (NJW 1973, 1549) unzweifelhaft entfallen. Die Bundesrepublik hatte sich seither weiterhin prosperierend zu einem der wirtschaftlich reichsten Staaten der Erde entwickelt und war daher durchaus in der Lage, Regelungen zur Entschädigung und zum Ausgleich der in Art.5 LSchA vorbehaltenen Forderungen zu treffen. Tatsächlich hat die Beklagte, dies soll nicht verkannt werden, erhebliche Anstrengungen unternommen und Leistungen erbracht, um nationalsozialistisches Unrecht wiedergutzumachen (vgl. etwa BT-Drucks.10/6287). Gegenüber Angehörigen der ehemaligen Ostblockstaaten fehlt es dagegen nach wie vor weitgehend an Wiedergutmachungs- und Entschädigungsleistungen.
      Die von den Klägerinnen geltend gemachten Ansprüche auf Bereichungsausgleich stellen Forderungen dar, die dem Eigentumsschutz des Art.14 GG unterliegen ... Bereits der BGH (aaO) hat angedeutet, ein auf Art.5 LSchA gegründeter Klagestopp könne bei übermäßiger Dauer von einer bloßen Eigentumsbeschränkung in eine Enteignung umschlagen, es allerdings unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgelehnt, die Klagesperre an Art.14 GG zu messen. Dem kann im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr gefolgt werden. Zwar besteht eine weitgehend von Art.14 GG nicht berührte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Bewältigung der außergewöhnlichen Probleme, die ihren Ursprung in den historischen Vorgängen vor der Entstehung der Bundesrepublik haben, sowie beim Ausgleich der wirtschaftlichen und politischen Lasten aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des ehemaligen Deutschen Reiches ... Diese weitgehende Befreiung von den Bindungen des Art.14 GG gibt dem Gesetzgeber jedoch keine freie Entscheidung dahingehend, ob er überhaupt eine Ausgleichsregelung zugunsten der Betroffenen schafft (BVerfGE 84, 90, 128). Da ... eine Ausgleichsregelung zugunsten des Personenkreises, dem im weitesten Sinne die Klägerinnen angehören (Verfolgte der nationalsozialistischen Herrschaft, insbesondere Zwangsarbeiter, aus dem Bereich des ehemaligen Ostblocks) bislang nicht getroffen wurde, obwohl der Zweck des Art.5 Abs.4 LSchA entfallen war, muß diese Vorschrift aufgrund der tatsächlichen historischen Entwicklung nicht nur als überholt, sondern im Hinblick auf Art.14 GG als verfassungswidrig angesehen werden.
      Aus den bereits angeführten Gründen ergibt sich ferner, daß Art.5 Abs.4 LSchA außerdem wegen Verstoßes gegen Art.3 GG als verfassungswidrig anzusehen ist. War der Gesetzgeber ... nicht frei bei der Entscheidung darüber, ob er Verfolgten nationalsozialistischen Unrechts überhaupt einen Ausgleich gewährt, so hatte er bei dieser grundsätzlichen Entscheidung und der Ausgestaltung von Ausgleichsregelungen das Gleichheitsgebot zu beachten. Während Staatsangehörigen der ehemaligen Westalliierten und zu den Stichtagen im Bundesgebiet wohnhaften Opfern nationalsozialistischer Gewaltherrschaft weitgehende Entschädigungen gewährt wurden, hat die Beklagte dies gegenüber Staatsangehörigen der ehemaligen Ostblockstaaten unter Hinweis auf Art.5 LSchA regelmäßig abgelehnt. Dies ist nach dem dargelegten Entfallen des Zwecks der vorwiegend ökonomisch begründeten Schutzvorschrift des Art.5 LSchA nicht mehr vertretbar. Die Weitergeltung der Vorschrift stellt sich mithin als mit dem Gleichheitsgebot unvereinbar dar.
      Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die immensen Kosten der Vereinigung Deutschlands und die darauf beruhende eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik verweist, gibt dies zu einer abweichenden Beurteilung keinen Anlaß. Diese neueste historische Entwicklung war bei Inkrafttreten des LSchA weder vorhersehbar noch Gegenstand der zugrundeliegenden Verhandlungen und daher vom erörterten Schutzzweck nicht umfaßt. ...
      4. Unbeschadet der nach Ansicht der Kammer gegebenen Verfassungswidrigkeit von Art.5 Abs.4 LSchA hängt die Entscheidung des Rechtsstreits auch von der Frage ab, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist, die Betroffenen völkerrechtswidriger staatlicher Handlungen individuelle Rechte eröffnet oder sperrt.
      An der Völkerrechtswidrigkeit der Heranziehung der Klägerinnen zur Zwangsarbeit besteht kein Zweifel. Nach verbreiteter Ansicht sind Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter auf Vergütung der geleisteten Tätigkeiten als Unterfall von Reparationsforderungen anzusehen (vgl. BGH, RzW 1963, 525). Daraus wird einerseits gefolgert, ein Ausgleich derartiger Forderungen müsse zwischenstaatlichen Vereinbarungen vorbehalten bleiben, der in völkerrechtswidriger Weise Geschädigte habe keinen völkerrechtlichen Individualanspruch ... Auf der anderen Seite hat es der BGH (aaO) ausdrücklich abgelehnt, privatrechtlichen Entschädigungsforderungen von vornherein die Berechtigung abzusprechen, und in diesem Zusammenhang Bedenken geäußert, ob es einen anerkannten Grundsatz der Exklusivität völkerrechtlicher Entschädigung gibt, der Individualansprüche ausschließt. Hervorzuheben ist, daß Art.5 LSchA neben den Forderungen von Staaten auch solche von Staatsangehörigen jener Staaten ausdrücklich nennt und damit ebenfalls von der Möglichkeit individueller Ansprüche auszugehen scheint.
      Die Kammer teilt die vom BGH erhobenen Zweifel an der Exklusivität. Wie ausgeführt handelt es sich bei den in Rede stehenden bereicherungsrechtlichen Ansprüchen um solche privatrechtlicher Natur. Hinzu kommt, daß Art.5 Abs.4 LSchA Sanktionscharakter hat ... und nicht an die aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen anknüpft (anders Art.5 Abs.2 und 3 LSchA). Andererseits stellt Art.5 Abs.4 LSchA auf die getroffenen bzw. noch zu treffenden einschlägigen Verträge ab. Damit stellt sich wiederum die Frage des Vorrangs völkerrechtlicher Vereinbarungen und der Exklusivität darin enthaltener Entschädigungsregelungen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auch auf die in Art.5 des Abkommens über die Sklaverei (RGBl.II 1929, 63) enthaltene Entschädigungsregelung. Im Hinblick auf die dargelegten unterschiedlichen Auffassungen zur Frage des Vorrangs bzw. der Ausschließlichkeit völkerrechtlicher Vereinbarungen zur Entschädigung von völkerrechtswidrigen Handlungen gegenüber Einzelpersonen und daraus resultierenden Zweifeln der Kammer bedurfte es gemäß Art.100 Abs.2 GG, §§83 f. BVerfGG einer Vorlage zur Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Hinweis:

      Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 13.5.1996 (2 BvL 33/93, EuGRZ 1996, 407ff.) eine ähnliche Vorlage des LG Bonn als unzulässig verworfen.