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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1825. GEMEINSCHAFTSRECHTSKONFORME AUSLEGUNG DES DEUTSCHEN RECHTS

Nr.89/1

[a] Die "richtlinienkonforme" Auslegung einer nationalen Gesetzesbestimmung findet dort ihre Grenze, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde.

[b] Als Träger der öffentlichen Gewalt in den Mitgliedstaaten sind die nationalen Gerichte nach Art.5 EWG-Vertrag jedoch verpflichtet, nicht nur das zur Durchführung einer Richtlinie erlassene Gesetz, sondern das nationale Recht in seiner Gesamtheit so weit wie möglich im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen.

[a] A national statutory provision cannot be interpreted with a view to keeping it in conformity with an EC directive if this interpretation comes into conflict with the provision's wording and the clearly discernible will of the legislature.

[b] The national courts, as organs of public authority in the member states, are, however, obligated under Art.5 of the EEC Treaty to interpret not only the statute enacted for transposing a directive but national law in its entirety as far as possible in the light of the wording and purpose of the directive.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.3.1989 (8 AZR 447/87), NJW 1990, 65 (ZaöRV 51 [1991], 219)

Einleitung:

      Die Klägerin bewarb sich um eine vom Beklagten ausgeschriebene Stelle. Ihre Bewerbung wurde allein wegen ihres Geschlechts von vornherein nicht berücksichtigt. Vorliegend begehrt die Klägerin u.a. Schadensersatz in Höhe von mindestens sechs Monatslöhnen. Ihre Klage hatte in Höhe eines Monatsverdienstes Erfolg. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts lag in der Benachteiligung der Klägerin wegen ihres Geschlechts nicht nur ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des §611a Abs.1 BGB, sondern zugleich eine schwerwiegende und schuldhafte Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts durch den Beklagten. Die Klägerin könne deshalb Ersatz ihres immateriellen Schadens nach Schmerzensgeldgrundsätzen verlangen (§§823 Abs.1, 847 BGB).

Entscheidungsauszüge:

      IV. Für die vom Beklagten zu vertretende Persönlichkeitsverletzung ist eine anderweitige Entschädigung, die den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens ausschließen könnte ..., nicht vorgesehen.
      Auf §611a Abs.2 BGB kann der Anspruch nicht gestützt werden ... Nach dieser Bestimmung ist der Arbeitgeber nur zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet. Dieser wird regelmäßig nur die Bewerbungskosten umfassen. Diese Anspruchsbegrenzung auf das negative Interesse war vom Gesetzgeber gewollt ...
      §611a Abs.2 BGB bietet auch dann keine Rechtsgrundlage für eine Entschädigung, die den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens ausschließt, wenn man die Grundsätze der Urteile des EuGH vom 10.4.1984 [Rs.14/83 - von Colson und Kamann, Slg.1984, 1891; Rs.79/83 - Harz, Slg.1984, 1921] berücksichtigt. Danach reicht die Rechtsfolge des §611a Abs.2 BGB nicht aus, um dem Regelungsziel der EG-Richtlinie 76/207 vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl.L39, S.40) gerecht zu werden. Entscheide sich ein Mitgliedsstaat dafür, als Sanktion gegen das Diskriminierungsverbot eine Entschädigung zu gewähren, müsse diese jedenfalls, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gewährleistet seien, in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen und somit über einen rein symbolischen Schadensersatz wie etwa die bloße Erstattung der Bewerbungskosten hinausgehen. Es sei Sache der nationalen Gerichte, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den [ihnen] das nationale Recht einräume, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden ...
      §611a Abs.2 BGB kann auch bei Beachtung dieser Grundsätze nicht als Grundlage eines den Vertrauensschaden übersteigenden Anspruchs auf Schadensersatz wegen geschlechtsbezogener Benachteiligung herangezogen werden. Dem steht der eindeutige Wortlaut der Bestimmung entgegen. Eine "richtlinienkonforme" Auslegung mit dem Ziel, §611a Abs.2 BGB einen über den dort geregelten Anspruch hinausgehenden Schadensersatzanspruch zu entnehmen, ist nicht zulässig ... Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, eine für die Mitgliedsstaaten verbindliche EG-Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen (Art.189 Abs.3 EWGV). Selbst eine verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen findet dort ihre Grenze, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde ... Für die Auslegung innerstaatlichen Rechts im Lichte des Wortlauts und des Zweckes einer Richtlinie nach Art.189 Abs.3 EWGV kann nichts anderes gelten ...
      V. Der Entschädigungsanspruch wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts ist andererseits auch nicht durch §611a Abs.2 BGB ausgeschlossen. Diese Bestimmung regelt die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot nach §611a Abs.1 BGB nicht abschließend.
      Die Beschränkung der Schadensersatzpflicht nach §611a Abs.2 BGB auf das negative Interesse bezweckt, einen Einstellungsanspruch des benachteiligten Arbeitnehmers und damit auch einen Anspruch auf Zahlung des entgangenen Lohns auszuschließen ... Betroffen von dem haftungsbeschränkenden Teil dieser Regelung sind somit allenfalls Ansprüche auf Ersatz des materiellen Schadens, soweit sie den Vertrauensschaden übersteigen würden. Dagegen werden Ansprüche auf Ersatz immaterieller Schäden nicht berührt ... Durch die EG-Richtlinie 76/207, die den deutschen Gesetzgeber zur Regelung des §611a BGB veranlaßt hat, sollten Arbeitnehmer vor geschlechtsspezifischen Benachteiligungen geschützt und damit ein weiterer Schritt zur Gleichberechtigung von Mann und Frau getan werden. Diesem Normzweck widerspräche es, wollte man in §611a Abs.2 BGB einen Ausschluß des Anspruchs auf Ersatz des immateriellen Schadens sehen. Schon vor Erlaß des §611a BGB wurden Ansprüche auf Ersatz immateriellen Schadens nach §823 Abs.1, §847 BGB bei Diskriminierungen anerkannt. Dafür, daß sich diese Rechtslage ändern sollte, enthält §611a Abs.2 BGB keine Anhaltspunkte ...
      VI. ... 2. Bei der Benachteiligung eines Stellenbewerbers wegen des Geschlechts liegt regelmäßig eine erhebliche Persönlichkeitsverletzung vor. Dies folgt nicht nur daraus, daß der Gesetzgeber beim Zugang zum Arbeitsverhältnis die Benachteiligung wegen des Geschlechts in §611a Abs.1 BGB in Ausführung der EG-Richtlinie 76/207 verboten hat. Vielmehr kann bei Beurteilung der Frage, ob die Persönlichkeitsverletzung als schwerwiegend anzusehen ist, nicht unberücksichtigt bleiben, daß nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot eine Sanktion zu verlangen ist, die in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden steht und über einen rein symbolischen Schadensersatz hinausgeht. Mit diesem Ziel haben die nationalen Gerichte als Träger der öffentlichen Gewalt in den Mitgliedsstaaten nach Art.5 EWGV bei ihrer Rechtsprechungstätigkeit das nationale Recht, und zwar nicht nur das zur Durchführung der Richtlinie erlassene, im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um das in Art.189 Abs.3 EWGV genannte Ziel zu erreichen ... Dies muß dazu führen, eine Persönlichkeitsverletzung, die in der geschlechtsspezifischen Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsplatz liegt, regelmäßig als anspruchsbegründend anzusehen.
      VII. ... 2. ... b) Dem Berufungsgericht ist zu folgen, soweit es bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles die Schwere des Verstoßes und die konkrete Situation der diskriminierten Person berücksichtigt. Auch soweit es auf die besondere Sanktionsfunktion der Entschädigung abstellt, sind seine Ausführungen frei von Rechtsirrtum. Dadurch trägt das Berufungsgericht seiner Verpflichtung Rechnung, das nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der EG-Richtlinie 76/207 auszulegen. Nachdem der nationale Gesetzgeber sich in §611a BGB entschieden hatte, als Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot eine Entschädigung zu gewähren (sich also nicht etwa für eine stattdessen ebenfalls zulässige Bußgeldregelung entschieden hatte ...), mußte die Entschädigung, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gewährleistet sind, in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen und über den in §611a Abs.2 BGB vorgesehenen unzureichenden, weil nur symbolischen Schadensersatz ... hinausgehen.

Hinweis:

      Vgl. auch BAG, Urteil vom 14.3.1989 (8 AZR 351/86), NJW 1990, 67, wo das Bundesarbeitsgericht gleiche Erwägungen anstellte, den Schadensersatzanspruch jedoch letzlich verneinte, weil die Persönlichkeitsverletzung nicht schwerwiegend gewesen sei.
      Zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung s. noch unten 1842.10-§1 Abs.1 [89/1].
      Durch Art.7 des 2. Gleichberechtigungsgesetzes vom 24.6.1994 (BGBl.I S.1406) ist § 611a BGB neu gefaßt worden, um den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen. Im Urteil vom 22.4.1997 (Rs. C-180/95) hat der EuGH jedoch erneut eine Vertragsverletzung gesehen (EuZW 1997, 340). Vgl. auch BAG, Urteil vom 5.3.1996 (1 AZR 590/92(A)), EuZW 1996, 475.