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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.60. ASSOZIIERUNGSABKOMMEN MIT DER TÜRKEI

Nr. 93/1

[a] Art.7 ARB 1/80 gewährt den von ihm begünstigten türkischen Staatsangehörigen in der Regel einen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis, zumindest aber Schutz gegen die Entziehung oder Beschränkung dieser Aufenthaltserlaubnis.

[b] Die Stellung eines türkischen Staatsangehörigen, der unter Art.6 oder 7 ARB 1/80 fällt, kann nicht günstiger sein als die eines Staatsangehörigen eines EG-Mitgliedstaats.

[a] As a rule, Art.7 of Decision No.1/80 of the Association Council gives Turkish nationals as beneficiaries a right to a renewal of their residence permit; at the least, it protects them from withdrawal or restriction of their residence permit.

[b] The status of a Turkish national covered by Art.6 or 7 of Deci-sion No.1/80 of the Association Council cannot be more favorable than the status of a national of an EC member state.

Schleswig-holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 16.2.1993 (4 L 220/92) InfAuslR 1993, 166ff. (ZaöRV 55 [1995], 887 f.) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, war als Kind in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, um bei seinem hier als Arbeitnehmer beschäftigten Vater zu wohnen. Nach mehrfacher Verurteilung des Klägers wegen erheblicher Straftaten wurde seine Aufenthaltserlaubnis nachträglich befristet. Seine dagegen gerichtete Klage und seine Berufung blieben auch angesichts der Regelung in Art.7 Satz 1 des Beschlusses des Assoziationsrats (ARB) 1/80 erfolglos.

Entscheidungsauszüge:

      Zu denken ist ... daran, daß der Kläger sich zu seinen Gunsten auf die Regelung des Art.7 Satz 1 ARB 1/80 berufen kann. Nach dieser Regelung haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, und auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung. Der Senat braucht im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall nicht abschließend zu entscheiden, ob Art.7 Satz 1 ARB 1/80 in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art.6 Abs.1 auch aufenthaltsrechtliche Wirkung entfaltet und sich der Ausländer, der die Tatbestandsvoraussetzungen von Art.7 Satz 1 erfüllt, unmittelbar auf diese Bestimmung berufen kann, um die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu erreichen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.12.1992 - Rs.C-237/91 -, InfAuslR 1993, 41ff., 43). Gegen die Erstreckung des Aufenthaltsrechts auch auf die in Art.7 Satz 1 ARB 1/80 geregelten Fälle wird eingewandt, daß entgegen der Regelung in Art.6 Abs.1 ein bestehendes Aufenthaltsrecht vorausgesetzt wird, so daß diese Vorschrift nicht Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf eine solche Aufenthaltserlaubnis sein könne (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.1.1992 - 11 S 1995/91 -, NVwZ-RR 1992, 657, 658f.). Es spricht einiges dafür, daß sich diese Auffassung allein auf eine enge grammatikalische Auslegung der Vorschrift des Art.7 Satz 1 ARB 1/80 stützen kann ... Für den Senat ist dieses Ergebnis indes nicht so eindeutig, daß er sich ohne weiteres der Auffassung des VGH Baden-Württemberg ... anschließen könnte. Zu beachten ist, daß es hier um die Interpretation eines Textes des Europarechts geht, für den die Auslegungsregeln des deutschen Rechts nicht unbedingt Geltung beanspruchen können. ...
      Eine abschließende Entscheidung dieser Frage erübrigt sich allerdings im vorliegenden Fall deshalb, weil jedenfalls die Rechtsstellung eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Aufenthaltserlaubnis der in Art.7 Satz 1 ARB 1/80 genannten Art aktuell besitzt, unter den besonderen aufenthaltsrechtlichen Schutz der Bestimmungen dieses Beschlusses fällt. Im Ergebnis bedeutet dies, daß Art.7 ARB 1/80 den von ihm begünstigten türkischen Staatsangehörigen wohl regelmäßig einen Anspruch auf Verlängerung einer ihnen erteilten Aufenthaltserlaubnis, jedenfalls aber einen Schutz gegen die Entziehung oder Beschränkung dieser Aufenthaltserlaubnis verleiht.
      Danach spricht alles dafür, daß dem Kläger im vorliegenden Fall der Schutz des Art.7 Satz 1 ARB 1/80 grundsätzlich zugute kommt. Er ist in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zum Zwecke der Familienzusammenführung mit seinem hier lebenden Vater, der ... seinerseits die Voraussetzungen des Art.6 Abs.1 ARB 1/80 erfüllt. ... Die Rechtsstellung aus Art.7 Satz 1 ARB 1/80 schützt indes - genau wie die aus Art.6 Abs.1 - den türkischen Staatsangehörigen nicht vor jeder Beschränkung seines Aufenthaltsrechts.
      Fest steht in jedem Fall, ... daß die Stellung eines türkischen Staatsangehörigen, der unter Art.6 oder 7 ARB 1/80 fällt, nicht günstiger sein kann als die eines Staatsangehörigen eines EG-Staates (Gemeinschaftsinländer ...). Bei freizügigkeitsberechtigten Gemeinschaftsinländern setzt die Beschränkung der Freizügigkeit im Falle einer strafgerichtlichen Verurteilung voraus, daß eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Darüber hinaus dürfen freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen nur getroffen werden, wenn der Ausländer durch sein persönliches Verhalten dazu Anlaß gibt. Erforderlich ist, daß eine konkrete Gefahr neuer Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung anzunehmen ist. Dabei ist eine nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beurteilende und deswegen nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende Wahrscheinlichkeit zu verlangen, daß der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stören wird. Ob diese Gefahr besteht, unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle ... Danach spricht nach dem gegenwärtig zu überschauenden Sachverhalt alles dafür, daß die hier verfügte nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers auch unter Berücksichtigung der Anforderungen, die Art.14 Abs.1 ARB 1/80 an eine solche Maßnahme stellt, nicht zu beanstanden ist.