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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1849. BEIHILFEN

Nr.91/2

[a] Der Empfänger einer gemeinschaftsrechtswidrig bewilligten Beihilfe kann sich auf schutzwürdiges Vertrauen (§48 Abs.2 VwVfG) nur dann berufen, wenn er sich vergewissert hat, daß die Kommission vorab unterrichtet war (Art.93 Abs.3 EWGV).

[b] Verlangt die Kommission die Rückforderung einer materiell gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfe, steht der nationalen Behörde kein Rücknahmeermessen mehr zu.

[c] Die Jahresfrist nach §48 Abs.4 Satz 1 VwVfG beginnt zu laufen, sobald die Behörde Kenntnis von der materiellen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Beihilfe erhält, also frühestens mit der Bekanntgabe einer entsprechenden Kommissionsentscheidung.

[a] The recipient of state aid granted in violation of Community law normally cannot defend against the demand for return of the aid by invoking his or her reliance on the irreversibility of the grant (§48 (2) of the Administrative Procedure Act). Such reliance will only merit protection if the recipient has ascertained that the Commission had been informed according to Art.93 (3) of the EEC Treaty before the aid was granted.

[b] If the Commission demands that the national government reclaim the aid, the national authorities have no more discretion as to whether or not the aid be reclaimed.

[c] The one-year revocation period under §48 (4) (1) of the Administrative Procedure Act starts running as soon as the authority is informed about the incompatibility of the aid granted with the common market, i.e., no earlier than it is notified of a Commission decision to this effect.

Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 26.11.1991 (4 A 1346/88), JZ 1992, 1080 mit Anmmerkung von Fastenrath (ZaöRV 53 [1993], 420 ff.)

Einleitung:

      Die Klägerin hatte 1983 Zuschüsse zur Förderung von Investitionsmaßnahmen erhalten, ohne daß die Kommission vorab davon unterrichtet worden wäre. Nachdem diese davon erfahren hatte, stellte sie durch Entscheidung vom 10.7.1985 fest, daß die Beihilfe formell unter Verstoß gegen Art.93 Abs.3 EWGV gewährt worden und materiell mit Art.92 EWGV unvereinbar seien; deshalb müßten sie zurückgefordert werden. Die von der Klägerin gegen diese Entscheidung erhobene Klage wies der EuGH mit Urteil vom 24.2.1987 ab (Rs.310/85, Slg.1987, 901). Mit Bescheid vom 27.3.1986 hatte der Beklagte bereits die Investitionszulagenbescheinigung zurückgenommen. Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos.

Entscheidungsauszüge:

      Der angefochtene Bescheid vom 27.3.1986 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Rücknahme findet ihre Rechtsgrundlage in §48 VwVfG. Der Anwendbarkeit dieser Vorschrift steht nicht entgegen, daß der Beklagte die Rücknahme mit der Unvereinbarkeit der erteilten Bescheinigung mit Gemeinschaftsrecht begründet. Die Rücknahme gemeinschaftsrechtswidriger Subventionsbescheide - gleiches gilt für Bescheide, die wie im vorliegenden Fall die Grundlage solcher Subventionen bilden - bestimmt sich in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nach §48 VwVfG ... Das ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (EuGH, Slg.1983, 2633, 2664 ff.; BVerwGE 74, 357, 360) für diejenigen Fälle anerkannt, in denen Beihilfen auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht und aus Mitteln der Gemeinschaft gewährt werden. Denn nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts fehlt es für die Rücknahme gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte und für die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen an entsprechenden generellen und umfassenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften. Dies gilt erst recht, wenn es sich wie im vorliegenden Fall um einen Verwaltungsakt handelt, der nach Maßgabe deutschen Rechts ergangen ist und die Grundlage für die Gewährung von Beihilfen aus nationalen Mitteln bildet.
      Die Erteilung der Investitionszulagenbescheinigung war rechtswidrig. Sie verstieß, wie der EuGH in seinem auf den vorliegenden Fall bezogenen Urteil vom 24.2.1987 mit bindender Wirkung festgestellt hat, gegen Gemeinschaftsrecht. Deutsche Stellen - hier der Beklagte - waren darum im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft nicht befugt, die Bescheinigung zu erteilen. Damit steht zugleich für den erkennenden Senat verbindlich fest, daß die Bescheinigung auch im Sinne des §48 VwVfG, nämlich im Verhältnis zwischen den Parteien, rechtswidrig war (wird ausgeführt).
      Der Beklagte hat die Bescheinigung ohne Verstoß gegen §48 Abs.2 VwVfG zurückgenommen; insbesondere kann sich die Klägerin nicht auf Vertrauensschutz berufen.
      Es kann dahinstehen, ob die Klägerin, wie das Verwaltungsgericht meint, gar nicht auf den Bestand der erteilten Bescheinigung vertraut hat, weil sie in Kenntnis der Bedeutung der Bivalenz der von ihr projektierten Anlage nicht alle Umstände offenbart hat und weil ihr die Notwendigkeit einer Notifizierung wie auch die Unvereinbarkeit der Förderung mit Art.92 EWGV bekannt war. Auf diese Erwägungen, die ohnehin eher in die Richtung eines Ausschlusses des Vertrauensschutzes nach §48 Abs.2 S.3 VwVfG zielen, kommt es nicht an, weil ein mögliches Vertrauen der Klägerin in den Bestand der Bescheinigung jedenfalls nach §48 Abs.2 S.1 VwVfG aufgrund einer Abwägung des Vertrauensschutzes mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme nicht schutzwürdig ist. Darum braucht auch nicht entschieden zu werden, ob und in welchem Umfang die Argumentation der Klägerin zutrifft, wonach Gründe dafür, daß sie sich nach §48 Abs.2 S.3 VwVfG auf Vertrauensschutz nicht berufen könne, nicht bestünden.
      Einer Abwägungsentscheidung nach §48 Abs.2 S.1 VwVfG steht die Regelwertung des §48 Abs.2 S.2 VwVfG nicht entgegen. Zwar hat im vorliegenden Fall die Klägerin die ihr aufgrund der Bescheinigung nach §2 Investitionszulagengesetz zugeflossenen Mittel bereits verwendet; damit kann nach §48 Abs.2 S.2 VwVfG die Bescheinigung "in der Regel" nicht mehr zurückgenommen werden. Im vorliegenden Fall wird diese Regelwertung indes durch Gemeinschaftsrecht verdrängt. Das sich aus der Tatsache des irreversiblen Verbrauchs der Förderung ergebende Bedürfnis nach Vertrauensschutz genießt auch dann, wenn die Ausschlußgründe des §48 Abs.2 S.3 VwVfG nicht vorliegen, keinen Vorrang gegenüber dem vom Gemeinschaftsrecht beeinflußten Rücknahmeinteresse.
      Bei der Anwendung nationalen Verwaltungsverfahrensrechts zur Reaktion auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Förderungsmaßnahmen ist dem Interesse der Gemeinschaft in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Im Konfliktfall tritt das nationale Verwaltungsverfahrensrecht hinter das allgemein geltende Gemeinschaftsrecht zurück ... Insbesondere darf die Anwendung des nationalen Rechts die Tragweite und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigen. Das wäre aber der Fall, wenn diese Anwendung die Wiedereinziehung von zu Unrecht geleisteten Zahlungen praktisch unmöglich machen würde (EuGH, Slg.1983, 2666).
      So lägen die Dinge aber bei uneingeschränkter Anwendung der Regelwertung des §48 Abs.2 S.2 VwVfG. Jedenfalls in denjenigen Fällen, in denen Förderungsmaßnahmen ohne vorangegangene Notifizierung erfolgten und schon durchgeführt wurden, ehe die Kommission sie nachträglich für gemeinschaftsrechtswidrig erklären konnte, wäre eine Rückgängigmachung bereits geleisteter Zahlungen ohne Bösgläubigkeit des Empfängers im Sinne des §48 Abs.2 S.3 VwVfG nicht mehr möglich. Das würde indes dem in Art.92 und 93 EWGV klar zum Ausdruck gelangenden Grundsatz widersprechen, daß gemeinschaftsrechtswidrige Förderungsleistungen zurückzuerstatten sind.
      Damit ist ein Vertrauensschutz des Empfängers gemeinschaftsrechtswidriger Förderungsleistungen nicht generell ausgeschlossen. Das wäre sowohl mit deutschem Verfassungsrecht, in dem das Vertrauensschutzprinzip wurzelt, wie aber auch mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, das auch seinerseits einen Vertrauensschutz kennt (EuGH, NVwZ 1990, 1161). Darum muß auch bei der gemeinschaftsrechtsbedingten Rücknahme von Förderungsmaßnahmen nach §48 Abs.2 S.1 VwVfG eine Abwägung zwischen dem Vertrauensschutzinteresse und dem gemeinschaftsrechtlichen Rückforderungsinteresse stattfinden. Diese Abwägung muß jedoch ebenfalls nach Maßstäben erfolgen, die sicherstellen, daß die Wiedereinsetzung von zu Unrecht geleisteten Zahlungen nicht praktisch unmöglich gemacht wird. Dabei sind im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit eines möglicherweise erbrachten Vertrauens die besonderen Vorkehrungen zu berücksichtigen, die der EWGV zum Schutz des freien Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt trifft. Im vorliegenden Fall führt diese Abwägung dazu, daß die Klägerin keinen Vertrauensschutz genießt.
      Nach §48 Abs.2 S.3 VwVfG findet der Schutz des Vertrauens in den Bestand rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte dort seine Grenze, wo der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dahinter steht der Gedanke, daß der Begünstigte grundsätzlich nicht selber prüfen muß, ob eine ihm von der Behörde gewährte Leistung auch der Rechtsordnung entspricht. Unkenntnis der Rechtslage ist jedenfalls dann, wenn sie nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht, kein Grund, den Begünstigten vom Vertrauensschutz auszuschließen.
      Diese Grundsätze finden indes im Hinblick auf das in Art.93 Abs.3 EWGV vorgeschriebene Notifizierungs- und Überwachungsverfahren nur eingeschränkt Anwendung. Nach dem Gemeinschaftsrecht läßt sich zwischen materieller und formeller Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Beihilfegewährung unterscheiden. Nach Art.92 Abs.1 EWGV sind wettbewerbsverfälschende Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Von dieser verbindlichen Regel gibt es nach Art.92 Abs.2 und 3 EWGV Ausnahmen, über deren Vorliegen die EG-Kommission entscheidet.
      In der Beurteilung der Ausnahmen verfügt die Kommission über ein Ermessen, das sie nach Maßgabe wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt ... Ohne Rücksicht auf das Vorliegen solcher materieller Gemeinschaftsrechtswidrigkeit sind Beihilfen der Mitgliedsstaaten formell illegal, wenn sie der EG-Kommission nicht vorab nach Art.93 Abs.3 EWGV notifiziert worden sind. Die Notifizierung hat u.a. den Sinn, die Kommission in die Lage zu versetzen, sich ein Bild über die Gemeinschaftsverträglichkeit einer Beihilfe zu verschaffen und eine entsprechende Entscheidung zu treffen. Vor einer solchen abschließenden Entscheidung ist dem Mitgliedstaat die Durchführung der beabsichtigten Förderungsmaßnahme untersagt.
      Die Existenz dieses förmlichen Überwachungsverfahrens schränkt den Vertrauensschutz der Subventionsempfänger ein. Auf die Ordnungsmäßigkeit und damit auf den Bestand der Beihilfe darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen nur dann vertrauen, wenn die Beihilfe unter Beachtung des im Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Verfahrens gewährt wurde (EuGH, NVwZ 1990, 1161, aaO).
      Der gute Glaube an die Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt ist für sich allein noch keine hinreichende Basis für schutzwürdiges Vertrauen. Denn mit dem Notifizierungsverfahren nach Art.93 Abs.3 EWGV ist ein Verfahren vorgeschrieben, das gerade auf die Prüfung der Gemeinschaftsverträglichkeit von Subventionen zielt. Nur wenn dieses Verfahren ordnungsgemäß durchlaufen wurde, besteht ein gesicherter Grund für die Annahme, daß die Beihilfe auch in materiell-rechtlicher Hinsicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solange darum ein Begünstigter sich nicht vergewissert hat, daß die Beihilfe unter Einhaltung des Notifizierungsverfahrens gewährt wurde, ist sein Vertrauen in ihre materielle Rechtmäßigkeit und ihren Bestand nicht schutzwürdig ... Dieser Ausschluß des Vertrauensschutzes rechtfertigt sich daraus, daß jedem Wirtschaftsunternehmen, das Förderungsmaßnahmen erfährt, bei denen sich nicht offenkundig der Beihilfecharakter oder Verstoß gegen Art.92 Abs.1 EWGV ausschließen lassen, zumutbar und auch möglich ist, in Erfahrung zu bringen, ob das Verfahren nach Art.93 Abs.3 EWGV eingehalten wurde (EuGH, NVwZ 1990, aaO). Bei Zugrundelegung dieser Erwägungen scheidet ein Vertrauensschutz bei der Klägerin aus. Sie hat eine Förderung erfahren, die nach Art und Umfang offensichtlich im Sinne des Art.92 Abs.1 EWGV gemeinschaftsrechtlich relevant ist. Da sie sich nicht vergewissert hat, ob ein Notifizierungsverfahren stattgefunden hat, verdient ein bei ihr möglicherweise entstandenes Vertrauen in den Bestand der Förderung nach §48 Abs.2 S.1 VwVfG keinen Schutz. Vielmehr muß sie sich, ohne sich insoweit auf ihre Unkenntnis berufen zu können, entgegenhalten lassen, daß die Förderung, die ihr zuteil wurde, im Sinne des Art.92 Abs.1 EWGV auch materiell-rechtlich mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar war.
      Die Rücknahme der Investitionszulagenbescheinigung ist weiterhin auch nicht wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig. Nach §48 Abs.1 S.1 VwVfG ist die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts zwar auch dann, wenn kein schützenswertes Vertrauen vorliegt, nicht geboten, sondern dem pflichtgemäßen Ermessen der Behörde anheimgestellt. Eine derartige Ermessensausübung scheidet jedoch dann aus, wenn und soweit das Gemeinschaftsrecht vorschreibt, daß zu Unrecht empfangene Beihilfen zurückzuzahlen sind. Das gilt nicht nur dann, wenn die Beihilfe aus Gemeinschaftsmitteln und nach Gemeinschaftsrecht gewährt wurde ..., sondern auch für die Rückforderung rein nationaler Beihilfen. In diesem Fall ergibt sich die Pflicht zur Rückzahlung zwar nicht schon unmittelbar aus einer Gemeinschaftsnorm, sondern aus der Entscheidung der Kommission, die den Mitgliedstaat zur Rückforderung der Beihlife verpflichtet. Aber auch diese Einzelentscheidung ist nur Ausdruck der sich aus den Art.92 und 93 EWGV herleitenden generellen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, gemeinschaftsrechtswidrige Förderungen durch Beihilfegewährung wieder rückgängig zu machen, und bindet, wenn sie bestandskräftig geworden ist, den betreffenden Mitgliedstaat wie eine gemeinschaftsrechtliche Rückforderungsvorschrift ... Dementsprechend stand auch im vorliegenden Fall dem Beklagten bei der Entscheidung über die Rücknahme des Investitionszulagenbescheides kein Ermessen zu.
      Schließlich verstößt die Rücknahme der Bescheinigung auch nicht gegen §48 Abs.4 VwVfG. Danach ist die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nur innerhalb eines Jahres seit der Kenntnisnahme der Behörde von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen möglich. Diese Regelung gilt grundsätzlich auch im Hinblick auf die Rücknahme gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte, doch muß sie wie alles andere nationale Rechte dergestalt angewendet werden, daß die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderunng nicht praktisch unmöglich, sondern das Gemeinschaftsinteresse voll berücksichtigt wird (EuGH, NVwZ 1990, aaO).
      Die Einjahresfrist des §48 Abs.4 VwVfG war zum Zeitpunkt der Rücknahme am 27.3.1986 noch nicht verstrichen, denn die Frist begann nicht vor der Entscheidung der Kommission am 10.7.1985 zu laufen. Als Fristbeginn nach §48 Abs.4 VwVfG ist derjenige Zeitpunkt anzusehen, zu dem die Behörde Kenntnis von sämtlichen für die Rücknahmeentscheidung wesentlichen Umständen erlangt hat. Hierzu zählt auch die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden Verwaltungsakts (BVerwGE 70, 356, 362). Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es, was die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Investitionszulagenbescheinigung betrifft, nicht auf die möglicherweise schon 1983 erlangte Kenntnis des Beklagten von der formellen Illegalität an; maßgeblich ist vielmehr die Kenntnis von der materiellen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit, die endgültig frühestens durch die Entscheidung der Kommission vom 10.7.1985 bewirkt werden konnte ... Die Kenntnis von der formellen Illegalität der Beihilfe bringt die Frist nach §48 Abs.4 VwVfG noch nicht zum Laufen, denn die formelle Illegalität einer Förderungsmaßnahme ist noch kein ausreichender Rechtsgrund für ihre Rücknehmbarkeit. Die Beihilfe kann vielmehr noch nachträglich legalisiert werden, wenn die Kommission aufgrund nachgeholter Prüfung ihre Gemeinschaftsverträglichkeit feststellt; diese Feststellung würde die Rücknehmbarkeit ausschließen. Formelle Illegalität bedeutet nur, daß das Notifizierungsverfahren nach Art.93 Abs.3 EWGV nicht durchgeführt worden ist, besagt aber nichts über die materielle Gemeinschaftsverträglichkeit der Förderung. Stellt die Kommission fest, daß eine Beihilfe ohne vorhergehende Mitteilung eingeführt wurde, kann sie dem Mitgliedstaat zwar durch einstweilige Entscheidung aufgeben, eine ggf. noch laufende Zahlung einzustellen. Im übrigen aber hat sie zunächst zu prüfen, ob die Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist oder nicht. Erst wenn sie aufgrund eingeholter Auskünfte des Mitgliedsstaates, bei verweigerter Auskunft nach ihrem eigenen Informationsstand die Unvereinbarkeit der Beihilfe feststellt und deren Rückgängigmachung verlangt, entsteht für den Mitgliedsstaat eine entsprechende Handlungspflicht (EuGH, Slg.1990, 307 ff., 355 ff.). Es mag dahingestellt bleiben, ob die nationale Behörde damit die volle Kenntnis von allen die Rücknehmbarkeit einer Beihilfe begründenden Umständen überhaupt schon mit der Bekanntgabe der Kommissionsentscheidung erhält oder erst mit deren Bestandskraft. Jedenfalls steht nicht vor der Bekanntgabe der Kommissionsentscheidung fest, daß eine nachträgliche Legalisierung der Beihilfe durch die Kommission, die ihrer Rücknehmbarkeit entgegenstünde, nicht erfolgen wird. Ebenfalls entsteht auch nicht früher die Pflicht des Mitgliedsstaates zur Rückgängigmachung der Förderung, die eine Ermessensentscheidung ausschließt.
      Da die Jahresfrist des §48 Abs.4 VwVfG demnach jedenfalls nicht vor der Kommissionsentscheidung vom 10.7.1985 zu laufen begonnen hatte, war sie am 27.3.1986, am Tage des Rücknahmebescheides, noch nicht verstrichen.

Hinweis:

      Die Revision der Klägerin wurde vom Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 17.2.1993 (11 C 47.92) als unbegründet zurückgewiesen (BVerwGE 92, 81).