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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1881. VORABENTSCHEIDUNGSVERFAHREN

Nr.86/2

[a] Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG. Er ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet.

[b] Das Verfahrensrecht des Gerichtshofs genügt rechtstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten und freigewählten, kundigen Rechtsbeistand.

[a] The Court of Justice of the European Communities is a "lawful judge" within the meaning of Art.101 (1), clause 2 of the Basic Law. It is a judicial organ, established by and with jurisdiction under the Community Treaties, the judicial independence of which is guaranteed, which acts on the basis and within the framework of powers and procedures determined by law, and which, in principle, makes final decisions on questions of law pursuant to legal norms and standards.

[b] The procedural rules of the Court of Justice meet the due process standards required by the rule of law. In particular, they ensure the right to a fair hearing, procedural challenges and defenses adequate to the subject matter of the procedure, and the free choice of competent counsel.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (s. 1822 [86/1])

Entscheidungsauszüge:

      B.I.1. Eine Verletzung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG i.V.m. Art.177 Abs.3 EWGV durch das angegriffene Urteil setzte voraus, daß das Bundesverwaltungsgericht trotz der auf seinen Vorlagebeschluß hin ergangenen Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Mai 1982 (Rechtssache [RS] 126/81) zu einer neuerlichen Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet gewesen wäre. Das Unterlassen einer auf einer solchen Verpflichtung beruhenden Vorlage verstößt dann gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, wenn der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne dieser Bestimmung ist, und dieses Unterlassen auf Willkür beruht.
      a) Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG; diese vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschiedene Frage (vgl. BVerfGE 29, 198 [207]; 31, 145 [169]) ist zu bejahen.
      aa) Angesichts der umfangreichen institutionellen Garantien (vgl. Art.165 bis 168, 188 EWGV, Art.2 ff., 17 ff. des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17. April 1957 [BGBl. II S. 1166] und der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 4. Dezember 1974 in der kodifizierten Fassung vom 15. Februar 1982 [ABl. Nr.C 39/1 vom 15. Februar 1982]) können Zweifel an der Gerichtsqualität des Europäischen Gerichtshofs im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht bestehen. Der Gerichtshof ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet. Seine Mitglieder sind zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet; ihre Rechtsstellung ist normativ so ausgestaltet, daß sie Gewähr für persönliche Unabhängigkeit bietet. Das Verfahrensrecht des Gerichtshofs genügt rechtsstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten und frei gewählten, kundigen Rechtsbeistand (vgl. auch BVerfGE 59, 63 [91 f.]).
      bb) Der Gerichtshof ist kein Organ der Bundesrepublik Deutschland, sondern ein gemeinsames Organ der Europäischen Gemeinschaften. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten zusammen mit dem Umstand, daß die Gemeinschaftsverträge kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art.24 Abs.1, 59 Abs.2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle und das auf vertraglicher Grundlage erlassene abgeleitete Gemeinschaftsrecht Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und von ihren Gerichten zu beachten, auszulegen und anzuwenden sind, qualifizieren den Gerichtshof als gesetzlichen Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, soweit ihm durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen darin enthaltene Rechtsprechungsfunktionen aufgetragen sind. Hierzu rechnet insbesondere die Kompetenz des Gerichtshofs zu Vorabentscheidungen gemäß Art.177 EWGV.
      Art.177 EWGV spricht dem Gerichtshof im Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedsstaaten die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zu (BVerfGE 52, 187 [200]). Dieses in Art.177 EWGV gemeinschaftsrechtlich verankerte Rechtsprechungsmonopol des Gerichtshofs für den ihm danach ausschließlich zugewiesenen Zuständigkeitsbereich qualifiziert ihn insoweit als gesetzlichen Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.
      In dieser teilweisen funktionalen Eingliederung des Europäischen Gerichtshofs in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit prägt sich aus, daß die mitgliedsstaatliche Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander stehen, sondern in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet sind (vgl. z.B. Art.215 Abs.2 EWGV und die dort in Bezug genommenen "allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam sind"). An der auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten und dem Gerichtshof der Gemeinschaft ausgerichteten Kompetenzzuweisung des Art.177 EWGV wird dies besonders deutlich. Im Interesse des Vertragszwecks der Integration, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit dient sie einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrages (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Mai 1977, RS 107/76, Slg. 1977, S. 957 [972]; Urteil vom 6. Oktober 1982, RS 283/81, Slg. 1982, S. 3415 [3428]).
      cc) Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der aus Art.5 Abs.1 EWGV entspringenden völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der im EWG-Vertrag niedergelegten Pflichten zu treffen: Soweit diese aus Art.177 EWGV folgen, sind sie durch die Gerichte zu vollziehen und ist ihre Einhaltung durch die Mitgliedsstaaten selbst zu gewährleisten. Diesem Ziel dient in besonders geeigneter Weise die Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit nach Art.177 EWGV in den Anwendungsbereich des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.
      dd) Der Qualifizierung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzlichen Richters im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG für den Bereich von Vorabentscheidungen nach Art.177 EWGV steht nicht entgegen, daß es sich bei dem Vorlageverfahren nach Art.177 EWGV um ein objektives Zwischenverfahren handelt, in welchem die Parteien des Ausgangsverfahrens keine eigenen Antragsrechte haben, und das vorrangig dem Interesse an der Auslegung, Durchsetzung und Gültigkeitsprüfung des Gemeinschaftsrechts dient. Das Vorlageverfahren nach Art.177 EWGV vor dem Europäischen Gerichtshof ist Teil eines einheitlichen Rechtsstreites, für dessen Ausgang die Beantwortung der Vorlagefrage - soweit entscheidungserheblich - bestimmend ist. Der dem Einzelnen im Ausgangsverfahren zukommende Anspruch auf Wahrung der Gewährleistungen des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG erstreckt sich auch auf die Befolgung der durch Art.177 EWGV begründeten Pflicht zur Einleitung eines Vorlageverfahrens, unerachtet der Rechtsnatur dieses Verfahrens und der seinen Gegenstand bildenden Normen.
      b) Es stellte keine Willkür dar, daß das Bundesverwaltungsgericht es hier unterließ, den Gerichtshof neuerlich anzurufen.
      aa) Der Europäische Gerichtshof hatte im selben Ausgangsverfahren auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts bereits eine Vorabentscheidung getroffen. Ihr Entscheidungsgegenstand betraf dieselben Rechtsfragen, nämlich die Gültigkeit der Verordnungen der Kommission Nr.1412/76 vom 18. Juni 1976 und Nr.2284/76 vom 21. September 1976, deren erneute Vorlage die Beschwerdeführerin begehrte. Das Bundesverwaltungsgericht war nicht gehalten, diese Frage neuerlich vorzulegen. Die nach Maßgabe des Art.177 EWGV ergangenen Sachentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sind für alle mit demselben Ausgangsverfahren befaßten mitgliedsstaatlichen Gerichte bindend (EUGH, Urteil vom 24. Juni 1969, RS 29/68, Slg. 1969, S. 165 [178]); soweit entscheidungserheblich, sind sie den Entscheidungen im Ausgangsverfahren zugrundezulegen. Dies folgt aus Sinn und Zweck der Art.177, 164 EWGV (BVerfGE 45, 142 [162); 52, 187 [201]).
      bb) Eine Ausnahme von dieser Bindungswirkung besteht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 24. Juni 1969, a.a.O., S. 178) in Fällen mangelnder Klarheit seiner Entscheidung. Das Bundesverwaltungsgericht hat anhand der vorliegenden Vorabentscheidung des Gerichtshofs geprüft, ob ein solcher Fall vorliege. Es hat diese Frage verneint. Seine Auffassung ist frei von Willkür.
      cc) Nicht zu beurteilen ist hier, ob die grundsätzliche Bindungswirkung der Vorabentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ferner dann entfällt, wenn nach der Entscheidung neue Tatsachen bekannt werden, die möglicherweise zu einer anderen Sachentscheidung des Gerichtshofs führen könnten, oder ob hier allein das Verfahren der Wiederaufnahme nach Art.41 der Satzung des Gerichtshofs in Betracht käme; die Beschwerdeführerin hat solche Tatsachen nicht behauptet.
      dd) Es kann dahinstehen, ob dem Bundesverwaltungsgericht nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts die Möglichkeit offengestanden hätte, im Hinblick auf eine etwaige Außerachtlassung oder unzureichende Würdigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin im Verfahren nach Art.177 EWGV durch den Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf rechtliches Gehör neuerlich ein Vorlageverfahren einzuleiten. Nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, die frei von Willkür ist, bestanden keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Gerichtshof habe den Vortrag der Beschwerdeführerin nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen. Für eine erneute Vorlage nach Art.177 EWGV, deren Unterlassen, sofern sie nach den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zulässig und gegebenenfalls auch geboten wäre, eine Verletzung von Art.101 Abs.1 Satz 2 GG darstellen könnte, fehlte es daher an den Voraussetzungen.
      c) Jedenfalls aus diesen Gründen scheidet auch im vorliegenden Verfahren der Verfassungsbeschwerde eine Vorlage der genannten Fragen durch das Bundesverfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshof aus.
      d) Das Bundesverwaltungsgericht hat ferner nicht dadurch gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verstoßen, daß es unterlassen hat, das Bundesverfassungsgericht nach Art.100 Abs.1 GG anzurufen, um über eine vom Bundesverfassungsgericht zu unterbreitende Vorlage nach Art.177 EWGV den Europäischen Gerichtshof zu einer Änderung seiner Vorabentscheidung zu veranlassen. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zu diesem Zwecke wäre unzulässig gewesen; Entscheidungsgegenstand des Verfahrens nach Art.100 Abs.1 GG ist die Verfassungsmäßigkeit von Normen, nicht aber von Gerichtsentscheidungen.