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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1881. VORABENTSCHEIDUNGSVERFAHREN

Nr.93/1

[a] Lehnt der Bundesgerichtshof in einem Fall mit gemeinschaftsrechtlichen Bezügen die Annahme einer Revision nach §554b Abs.1 ZPO ab, so liegt darin zugleich die Entscheidung, von einer Vorlage nach Art.177 Abs.3 EWG-Vertrag abzusehen. Eine solche Entscheidung verletzt Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, wenn die Vorlagepflicht in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt worden ist.

[b] Macht der Bundesgerichtshof sich die europarechtlichen Erwägungen der Vorinstanz auch bloß stillschweigend zueigen, so liegt ein Verstoß gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht vor, wenn diese Erwägungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind.

[a] If the Federal Court of Justice, according to §554 (b) (1) of the Code of Civil Procedure, refuses to consider an appeal in a case involving Community law, it implicitly decides not to make a reference under Art.177 (3) of the EEC Treaty. Such a decision violates Art.101 (1) (2) of the Basic Law if the obligation to make a reference has been acted on in a patently untenable manner.

[b] If the Federal Court of Justice, although only by implication, adopts the Community law considerations of the lower court, and if those considerations are unobjectionable from a constitutional point of view, there will be no violation of Art.101 (1) (2) of the Basic Law.

Bundesverfassungsgericht (3.Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 16.12.1993 (2 BvR 1725/88), HFR 1994, 348ff. (ZaöRV 55 [1995], 885f.)

Entscheidungsauszüge:

      I. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Recht aus Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verletzt ist, daß der Bundesgerichtshof durch den angefochtenen Beschluß nach §554b ZPO ihre Revision nicht angenommen und es dabei ohne ausdrückliche Begründung unterlassen hat, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art.177 Abs.3 EWGV einzuleiten. ...
      3. b) Die Beschwerdeführerin regte beim BGH an, die Streitsache ... dem EuGH gemäß Art.177 Abs.3 EWGV zur Entscheidung vorzulegen. Der EuGH habe noch keinen vergleichbaren Fall entschieden. Der BGH sei auch nach den Grundsätzen des EuGH zur sogenannten acte clair-Doktrin nicht berechtigt, von einer Vorlage abzusehen, weil er nicht davon überzeugt sein könne, daß im vorliegenden Fall für den EuGH und die Gerichte der übrigen Mitgliedsstaaten die gleiche Gewißheit über die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts bestehe wie möglicherweise für ihn. Dies werde schon dadurch belegt, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften aufgrund der Beschwerde der französischen Muttergesellschaft beschlossen habe, gegen die Bundesrepublik Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art.169 EWGV einzuleiten.
      c) Der BGH hat durch den angegriffenen Beschluß entschieden, die Revision der Beschwerdeführerin nicht anzunehmen. Zur Begründung wird ausgeführt, die Rechtssache habe keine grundsätzliche Bedeutung, und die Revision hätte im Ergebnis auch keine Aussicht auf Erfolg.
      4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art.101 Abs.1 Satz 2 ... GG. Der BGH sei nach Art.177 Abs.3 EWGV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet gewesen und habe diese Verpflichtung willkürlich außer acht gelassen. ... Wesentliches Indiz für die willkürliche Nichtbeachtung der Vorlagepflicht sei das Fehlen einer echten Begründung. Die Vermutung liege nahe, daß es dem zuständigen Senat des BGH darauf angekommen sei, eine von ihm befürchtete Entwicklung im Wettbewerbsrecht abzublocken, die durch die Vorlage an den EuGH eingeleitet worden wäre, zumal dieser Senat auch in anderen Fällen keine Vorlagebereitschaft gezeigt habe. ...
      II. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da keiner der gesetzlichen Annahmegründe vorliegt. Der Beschluß des BGH verletzt die Beschwerdeführerin nicht in Grundrechten, insbesondere nicht in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.
      1. Der EuGH ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339, 366). Das BVerfG kontrolliert die Einhaltung des Art.177 Abs.3 EWGV wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht. Es beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (BVerfGE 82, 159, 194 ...).
      2. In Fällen einer an sich statthaften Revision, in denen das Revisionsgericht dennoch die Befugnis hat, die Annahme der Revision abzulehnen, kann die Vorlagepflicht aus Art.177 Abs.3 EWGV nur bei dem Revisionsgericht eintreten. Die Möglichkeit, daß eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auf die Entscheidung über die Revisionsannahme aus. Nach dem Beschluß des Plenums des BVerfG vom 11.Juni 1980 muß §554b Abs.1 ZPO verfassungskonform so ausgelegt werden, daß die Annahme von Revisionen, die nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung Aussicht auf Erfolg im Endergebnis besitzen, nicht abgelehnt werden [darf] (BVerfGE 54, 277, 285ff.). Wäre im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, kann die Erfolgsaussicht einer Revision erst nach Abschluß dieses Zwischenverfahrens sicher beurteilt werden. Beschließt der BGH, die Annahme der Revision abzulehnen, so liegt demnach darin zugleich die Entscheidung, die gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem EuGH vorzulegen, sondern sie in eigener Verantwortung mitzubeurteilen. Eine solche Nichtannahmeentscheidung ist folglich an den zuletzt im Senatsbeschluß vom 31. Mai 1990 (BVerfGE 82, 159, 192ff.) herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art.177 Abs.3 EWGV zu messen.
      3. Offensichtlich unhaltbar und daher verfassungswidrig gehandhabt wird die Vorlagepflicht insbesondere in den Fällen, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt. Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159, 195f.).
      Dem BVerfG ist eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe auch dann möglich, wenn der BGH einen Beschluß gemäß §554b ZPO vereinfacht begründet, sich dabei aber erkennbar die europarechtlichen Erwägungen der Vorinstanz zu eigen macht.
      a) In dem Beschluß der 1.Kammer des Zweiten Senats vom 9.November 1987 (2 BvR 808/82 - EuGRZ 1988, 109 ...) wird betont, die letztinstanzliche Entscheidung müsse erkennen lassen, ob die Frage der Vorlagepflicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV geprüft worden sei. Im Rahmen des der Entlastung des Revisionsgerichts dienenden Verfahrens gemäß §554b ZPO stelle es indes keinen Verfassungsverstoß dar, wenn das Revisionsgericht zur Begründung seiner Auffassung, daß eine Vorlage nicht in Betracht komme, auf die insoweit einschlägige Begründung der Berufungsentscheidung erkennbar Bezug nehme und sich diese insoweit zu eigen mache.
      b) Erkennbare Bezugnahme auf die Vorlageerwägungen der Berufungsinstanz bedeutet nicht ausdrückliche Bezugnahme.
      Dem Grundgesetz läßt sich nicht entnehmen, daß aus allgemeinen rechtsstaatlichen Erwägungen auch mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen unter allen Umständen mit einer Begründung zu versehen sind ... Der BGH mußte im hier zu entscheidenden konkreten Verfahren zwar erstmals über die Vorlagepflicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV entscheiden. Er allein mußte also die Anforderungen des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG prüfen und verbindlich über sie befinden. Von einer offensichtlich unhaltbaren Handhabung seiner Vorlagepflicht kann gleichwohl dann nicht gesprochen werden, wenn der BGH als letztinstanzliches Gericht - ohne ausdrückliche eigene europarechtliche Erwägungen anzustellen - sich die Argumentation der Vorinstanz stillschweigend zu eigen gemacht hat, nachdem diese sich in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise mit den einschlägigen europarechtlichen Fragen und damit mit ihrer Vorlagemöglichkeit gemäß Art.177 Abs.2 EWGV auseinandergesetzt hat. Damit genügt er den in der Senatsrechtsprechung aufgestellten Anforderungen hinsichtlich seiner Vorlagepflicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV ...
      Daß sich die Beschwerdeführerin durch das Urteil des EuGH vom 7. März 1990 (Rs.C-362/88) in ihrer Rechtsauffassung nachträglich bestätigt sieht, ändert nichts an der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Beschlusses des BGH, bei der ausschließlich auf die Einschätzung der (Gemeinschafts-)Rechtslage zur Zeit der Entscheidung, hier also im November 1988, abzustellen ist. Entsprechendes gilt hinsichtlich des Urteils vom 18. Mai 1993 (Rs.C-126/91), das als Vorabentscheidung in einem Verfahren erging, in dem die Beschwerdeführerin ... ebenfalls Beteiligte war. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn - anders als im vorliegenden Fall - sich die gemeinschaftsrechtliche Rechtslage oder die einschlägige Judikatur des EuGH nach Entscheidung des Berufungsgerichts, aber noch vor dem Nichtannahmebeschluß des Revisionsgerichts geändert hätte.