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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1887. ANREGUNGEN DEUTSCHER GERICHTE AN DEN EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF ZUR ÄNDERUNG SEINER RECHTSPRECHUNG

Nr.90/1

Der im Gemeinschaftsrecht enthaltene rechtsstaatliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes verlangt, daß der Europäische Gerichtshof Entscheidungen der Kommission nicht nur auf offensichtliche Beurteilungsfehler und Ermessensmißbrauch, sondern uneingeschränkt nachprüft.

The principle of effective legal protection against acts of public authority, which emanates from the rule of law principle implicit in Community law, requires that the European Court of Justice use a strict and comprehensive standard of review when scrutinizing Commission decisions, and not only a standard of patently mistaken evaluation and abuse of discretion.

Bundesfinanzhof, Beschluß vom 17.7.1990 (VII R 106/88), BFHE 161, 234 (ZaöRV 52 [1992], 436)

Einleitung:

      Die klagende Universität hatte ein japanisches Raster-Elektronenmikroskop eingeführt, das zu Forschungszwecken verwendet werden sollte, und begehrte dessen Freistellung vom Zoll. Die vom Hauptzollamt eingeschaltete Kommission erließ die für die deutschen Zollbehörden bindende Entscheidung Nr.83/348/EWG (ABl.1983 Nr.L 188/22), nach der das Mikroskop nicht zollfrei eingeführt werden könne, weil in der EG Geräte von gleichem wissenschaftlichem Wert hergestellt würden, die zu den gleichen Zwecken verwendbar seien. Der Klage gegen den Steuerbescheid gab das Finanzgericht statt. Nach seiner Auffassung hatte die Kommission die Zollbefreiung nach Art.3 Abs.1 der Verordnung (EWG) Nr.1798/75 (ABl.1975 Nr.L 184/1) zu Unrecht versagt. Ihre Entscheidung verstoße daher gegen Gemeinschaftsrecht und sei ungültig. Das Hauptzollamt begründete seine Revision gegen dieses Urteil damit, daß das Finanzgericht unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ohne Einholung einer Vorabentscheidung einen Sekundärrechtsakt für ungültig erklärt habe. Der Bundesfinanzhof legte dem Europäischen Gerichtshof daraufhin seinerseits die Gültigkeitsfrage vor.

Entscheidungsauszüge:

      Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der Kommissionsentscheidung vom 5. Juli 1983 83/348/EWG. Der Senat ist daher nach Art.177 Abs.1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs verpflichtet (vgl. auch ... EuGHE 1987, 4225). Er verweist im übrigen auf seine (inzwischen zurückgenommene) Vorlage (Beschluß vom 17. Januar 1989 VII R 56/86, BFHE 156, 291) in einem gleichgelagerten Fall (Rechtssache C-52/89).
      Nach Art.3 Abs.1 Buchst.b VO Nr.1798/75 darf die zuständige nationale Zollbehörde Zollbefreiung für ein eingeführtes wissenschaftliches Gerät nur gewähren, sofern zur Zeit der Bestellung kein Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert in der Gemeinschaft hergestellt worden ist. Konnte, wie im vorliegenden Fall, die Behörde keine entsprechende Entscheidung treffen, so hatte sie nach Art.7 Abs.2 VO Nr.2784/79 die Kommission einzuschalten. Trifft die Kommission wie hier eine negative Entscheidung (Art.7 Abs.6 Unterabs.2 VO 2784/79), so ist, wie sich aus Art.7 VO Nr.2784/79 ergibt, die nationale Zollbehörde an sie gebunden, d.h. gehindert, für das Gerät Zollfreiheit zu gewähren. Die Entscheidung im vorliegenden Verfahren hängt also davon ab, ob die Kommissionsentscheidung 83/348/EWG gültig ist.
      Nach Auffassung des Finanzgerichts verstößt diese Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht und ist deshalb ungültig; sie beruhe auf einem offensichtlichen Irrtum der Kommission bei der Beurteilung der tatsächlichen Voraussetzungen des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 hinsichtlich der Gemeinschaftsschutzklausel. Wenn der Gerichtshof dieser Auffassung folgt, so ist er gehalten, die Kommissionsentscheidung für ungültig zu erklären. Für den Fall aber, daß der Gerichtshof zur Auffassung gelangen sollte, die Kommissionsentscheidung sei deswegen nicht ungültig, weil jedenfalls kein offensichtlicher Beurteilungsfehler und kein Ermessensmißbrauch vorliege, bittet ihn der Senat, seine bisherige Rechtsprechung zu überprüfen.
      Der Gerichtshof hat bisher in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß er im Rahmen einer solchen Prüfung nur über eine begrenzte Kontrollbefugnis verfüge; er könne also in Anbetracht des technischen Charakters der Prüfung der Frage, ob eine Gleichwertigkeit zwischen verschiedenen Geräten vorliege, den Inhalt einer entsprechenden Kommissionsentscheidung nur im Fall eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers oder eines Ermessensmißbrauchs beanstanden (vgl. zuletzt Urteil vom 15.März 1989 Rs.303/87, ...[Slg. 1989, 705]). Der Senat hat Zweifel, ob dieser Auffassung gefolgt werden kann.
      Die Entscheidung der zuständigen einzelstaatlichen Zollbehörden über die Gewährung einer Zollbefreiung nach der VO Nr.1798/75 ist eine Rechtsentscheidung. Der Zollbehörde steht kein Ermessensspielraum zu. Sind die Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt, so hat die Zollbehörde die Waren zollfrei zu lassen. Obwohl der Tatbestand des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 einige unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, steht der Zollbehörde auch kein der vollen gerichtlichen Kontrolle entzogener Beurteilungsspielraum zu. Auch die Feststellung der Tatsachengrundlage und die Anwendung der Begriffe des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen durch die Zollbehörde unterliegen uneingeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung. Daran ändert der Umstand nichts, daß die Prüfung durch die Zollbehörde einen weitgehend technischen Charakter hat. Auch beispielsweise die Entscheidungen über die Einreihung einer Ware in die Kombinierte Nomenklatur ist oft von gleicher technischer Natur, ohne daß die Auffassung vertreten werden könnte, die Gerichte dürften die entsprechende Verwaltungsentscheidung nur auf offensichtliche Fehler hin überprüfen.
      Die Entscheidung der Kommission nach Art.7 Abs.6 VO Nr.2784/79 entspricht einer Entscheidung der einzelstaatlichen Zollbehörde. Sie ist aufgrund von Gemeinschaftsrecht für diese bindend. Sie muß daher in gleichem Umfang gerichtlich nachprüfbar sein wie die Entscheidung einer einzelstaatlichen Zollbehörde. Sie ist rechtlich unrichtig und daher für ungültig zu erklären, wenn ihre Nachprüfung ergibt, daß sie auf einer unzutreffenden Auslegung des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 beruht oder der Kommission Fehler unterlaufen sind bei der Feststellung der Tatsachengrundlage oder der Anwendung der Begriffe der genannten Vorschrift auf die festgestellten Tatsachen. Auch wenn die der Kommission unterlaufenen Beurteilungsfehler nicht offensichtlich sein sollten, ergibt sich eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung, die zur Erklärung der Ungültigkeit führen muß.
      Ob die Kommissionsentscheidung in diesem Sinne rechtmäßig ist, unterliegt nach Auffassung des Senats der uneingeschränkten Nachprüfung durch den Gerichtshof. Eine nur eingeschränkte Nachprüfung im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des EuGH würde bedeuten, daß eine rechtlich unrichtige, den Marktbürger belastende Kommissionsentscheidung Bestand behielte, nur weil die der Kommission unterlaufenen Fehler nicht offensichtlich sind. Je schwieriger die zu entscheidenden technischen Fragen sind, desto unangreifbarer wäre die entsprechende Kommissionsentscheidung. Es ist fraglich, ob eine solche Verkürzung des Rechtsschutzes des Marktbürgers vereinbar wäre mit dem nach Gemeinschaftsrecht geltenden rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. auch Art.19 Abs.4, Art.20 Abs.3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland).

Hinweis:

      Mit Urteil vom 21.11.1991 (Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469) hat der Europäische Gerichtshof die in Frage stehende Kommissionsentscheidung für ungültig erklärt und dazu u.a. folgendes ausgeführt (a.a.O., I-5499, Abschn. 13 f.; I-5502, Abschn. 28):
      Es ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission in einem Verwaltungsverfahren, das komplexe technische Beurteilungen zum Gegenstand hat, über einen Beurteilungsspielraum verfügt, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Soweit jedoch die Organe der Gemeinschaft über einen solchen Beurteilungsspielraum verfügen, kommt eine um so größere Bedeutung der Beachtung der Garantien zu, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt. Zu diesen Garantien gehören insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalles zu untersuchen, das Recht des Betroffenen, seinen Standpunkt zu Gehör zu bringen, und das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung. Nur so kann der Gerichtshof überprüfen, ob die für die Wahrnehmung des Beurteilungsspielraums maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben. ... Nach alledem ist die streitige Entscheidung nach einem Verwaltungsverfahren ergangen, in dem die Verpflichtung des zuständigen Organs zu sorgfältiger und unparteiischer Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalles, das Recht auf Anhörung und die Verpflichtung zu einer ausreichenden Begründung der getroffenen Entscheidung verletzt wurden.




Deutsche Rechtsprechung zum Völkerrecht und Europarecht 1986-1993, Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann
© Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 1998
Konzeption und technische Umsetzung: A. Dittmar