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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


231.1. INNERSTAATLICHE ANWENDBARKEIT VON EINZELNEN VERTRÄGEN

Europäisches Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955 (BGBl.1959 II S.998)

Nr.90/1 Britische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich sind gemäß Art.9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13.12.1955 von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozeßkostensicherheit befreit.
According to Art.9 (1) of the European Convention on Establishment of 13 December 1955 British citizens residing in the United Kingdom are exempted from the obligation to give security for costs in a court proceeding.

Oberlandesgericht Koblenz, Zwischenurteil vom 13.7.1990 (2 U 338/89), RIW 1990, 753 (ZaöRV 52 [1992], 361)

Einleitung:

      Der Berufungskläger ist ein im Vereinigten Königreich wohnhafter britischer Staatsangehöriger. Der deutsche Berufungsbeklagte verlangte vom Kläger vergeblich, daß dieser als Ausländer für die zu erwartenden Verfahrenskosten des Berufungsverfahrens nach §110 Abs.1 Satz 1 ZPO Sicherheit leiste. Die vom Beklagten erhobene Einrede der mangelnden Sicherheit für die Prozeßkosten (§113 Satz 2 ZPO) hat das Berufungsgericht verworfen.

Entscheidungsauszüge:

      Der Kläger bestreitet zu Recht seine Verpflichtung zur Leistung einer Sicherheit für die Kosten der Berufungsinstanz.
      Zwar haben Angehörige fremder Staaten, die als Kläger auftreten, dem Beklagten gem. § 110 Abs. 1 ZPO auf sein Verlangen wegen der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten. Der Kläger ist jedoch als britischer Staatsangehöriger von dieser Verpflichtung befreit.
      a) Diese Befreiung ergibt sich zwar nicht schon aus Art. 14 des deutsch-britischen Abkommens über den Rechtsverkehr vom 3.12.1928 (RGBl. II 1928, 623), das gemäß Bekanntmachung vom 13.3.1953 (BGBl. II, 1953, Seite 116) weiterhin anzuwenden ist. Nach Art.14 dieses Abkommens ist die Befreiung von der Sicherheitsleistung davon abhängig, daß der Kläger seinen Wohnsitz in dem Gebiet des anderen Vertragsstaates hat, in dem er Klage erheben will. Diese Voraussetzung erfüllt der im Vereinigten Königreich wohnende Kläger nicht.
      b) Der Kläger ist jedoch nach Art.9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13.12.1955 (BGBl. II 1959, Seite 998), das für das Vereinigte Königreich am 14.10.1969 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1970, Seite 843), von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozeßkostensicherheit befreit. Das Abkommen gilt für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (Art.30 Abs.1).
      Zwar lautet Art.9 Abs.1 dieses Abkommens in der amtlichen deutschen Übesetzung (BGBl. II 1959, Seite 1001) wie folgt:
      "Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines der anderen Vertragsstaaten haben und die vor den Gerichten eines der Vertragsstaaten als Kläger oder sonstige Verfahrensbeteiligte auftreten, darf keine Sicherheitsleistung oder Hinterlegung, wie auch immer sie bezeichnet sein mag, deshalb auferlegt werden, weil sie Ausländer sind oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland haben."
      Demnach wäre der Kläger, der Angehöriger des Vereinigten Königreiches ist und dort, nicht aber in einem anderen Vertragsstaat seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, von der Verpflichtung zur Leistung einer Sicherheit für die Kosten der Berufungsinstanz nicht befreit.
      Verbindlich ist jedoch allein (Art.34 Abs.4 am Ende) der englische und französische Wortlaut. Nach diesem ist die amtliche deutsche Übersetzung zumindest mißverständlich. In der Übersetzung der vom Senat hinzugezogenen, ihm aus mehreren Verfahren als zuverlässig bekannten vereidigten Übersetzerin lautet die korrekte Übersetzung des englischen und des französischen Wortlautes von Art.9 Abs.1 wie folgt:
      Englischer Text
      1. Von Staatsangehörigen irgendeines Vertragsstaates mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Gebiet eines Vertragsstaates, die als Kläger oder Drittbeteiligte vor den Gerichten irgendeines anderen Vertragsstaates auftreten, darf kein(e) irgendwie geartete(r) Sicherheitsleistung oder zu hinterlegender Betrag gefordert werden, weil sie Ausländer sind oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland haben.
      Französischer Text
      1. Von Staatsangehörigen eines der Vertragsstaaten mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort im Gebiete eines dieser Vertragsstaaten, die als Kläger oder Drittbeteiligte vor den Gerichten eines anderen dieser Vertragsstaaten auftreten, darf kein(e) - wie auch immer bezeichnete(r) - Sicherheitsleistung oder zu hinterlegender Betrag gefordert werden, weil sie Ausländer sind oder keinen Wohnsitz oder Aufenthaltsort im Inland haben.
      Nach dem alleinverbindlichen englischen und französischen Wortlaut bezieht sich - wie der Kläger mit Recht geltend macht - das Wort "other" bzw. "une autre" nur auf die Klage in einem anderen Staat, nicht aber auf das Domizil in einem anderen Staat, wie es in der deutschen Übersetzung der Fall ist.
      Die Befreiung des Klägers von der Pflicht zur Sicherheitsleistung ist nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig (§110 Abs.2 Nr.1 ZPO), das heißt davon, daß nach dem Heimatrecht des Klägers ein Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland im gleichen Falle zur Sicherheitsleistung nicht verpflichtet ist. Der Senat folgt der vom Bundesgerichtshof (vgl. BGHZ 12, 152, 153) zu Art.17 des Haager Zivilprozeßübereinkommens vom 1.3.1954 vertretenen Auffassung, daß Art.17 Haager Zivilprozeßabkommen eine Ausnahme von der Regel des §110 Abs.1 Satz 1 ZPO geschaffen hat, die nicht erfordert, daß auch die Voraussetzungen des §110 Abs.2 Nr.1 ZPO erfüllt sind, es sich also um zwei voneinander unabhängige Ausnahmebestimmungen handelt. Es handelt sich um eine Befreiung unmittelbar aufgrund eines Staatsvertrages. Was für Art.17 Haager Zivilprozeßabkommen - dem das Vereinigte Königreich nicht beigetreten ist - gilt, gilt auch für Art.9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens. Es handelt sich um inhaltsgleiche staatsvertragliche Regelungen. Keiner Erörterung bedarf daher der zu Art.9 von der Regierung des Vereinigten Königreichs erklärte Vorbehalt (BGBl. II 1970, Seite 843) die Absätze 1 und 2 so anzuwenden, als seien die Worte "oder einen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland" im Absatz 1 nicht enthalten.
      Der Kläger ist daher von der Verpflichtung, Sicherheit für die Kosten der Berufungsinstanz zu leisten, befreit.

Hinweis:

      Vgl. zum Verhältnis von Ausländersicherheit und gemeinschaftsrechtlichem Diskriminierungsverbot EuGH, Urteil vom 1.7.1993 (Rs. C-20/92 - Hubbard), EuZW 1993, 514, sowie Urteil vom 20.3.1997 (Rs. C-323/95 - Hayes), EuZW 1997, 280; zur Reziprozitätswirkung von Vorbehalten T. Giegerich, ZaöRV 52 (1992), 362 f.