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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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342. ORGANKOMPETENZ

Nr.90/2 Bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn beantragt wird, eine gesetzliche Regelung mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen außer Kraft zu setzen.
When reviewing the requirements for issuing an interim injunction suspending a statutory enactment which has effects in the field of international law or foreign policy, a particularly strict standard must be applied.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 11.12.1990 (1 BvR 1170, 1174, 1175/90), BVerfGE 83, 162 (ZaöRV 52 [1992], 459)

Einleitung:

      Im Zuge der Verhandlungen über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gaben die Regierungen beider deutscher Staaten am 15.6.1990 eine Gemeinsame Erklärung ab, nach der u.a. Einigkeit darüber bestehe, daß Enteignungen, die im Gebiet der späteren DDR auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 vorgenommen worden waren, nicht mehr rückgängig zu machen seien. Die Regierungen der Sowjetunion und der DDR sähen keine Möglichkeit, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Dies nehme die Bundesregierung im Hinblick auf die historische Entwicklung zur Kenntnis. Sie sei der Auffassung, daß einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben müsse.
      Diese Gemeinsame Erklärung ist als Anlage III zum Bestandteil des Vertrages über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.8.1990 (Einigungsvertrag - EV) (BGBl. II S.889) gemacht worden (Art.41 Abs.1 EV). Gleichzeitig ist ein neuer Art.143 in das Grundgesetz eingefügt worden, der in Absatz 3 das Verbot einer Rückabwicklung der genannten Enteignungen verfassungsrechtlich festschreibt.
      Die Beschwerdeführer tragen vor, daß sie selbst oder ihre Rechtsvorgänger als Grundstückseigentümer oder Betriebsinhaber von Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage betroffen worden seien. Mit ihren Verfassungsbeschwerden machen sie im wesentlichen geltend, daß der Gesetzgeber in Art.1 des Einigungsvertragsgesetzes durch die Zustimmung zur Festschreibung dieser Enteignungen ihre Grundrechte aus Art.3 Abs.1, Art.14 Abs.1 und Art.2 Abs.1 i.V.m. Art.20 Abs.3 GG verletzt habe. Durch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach §32 Abs.1 BVerfGG wollen sie erreichen, daß die Anwendung der entsprechenden Regelungen des Einigungsvertrages bis zu einer Hauptsacheentscheidung suspendiert wird.

Entscheidungsauszüge:

      B. ... II. Die Entscheidung über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung hängt ... von einer Abwägung der eintretenden Folgen ab ... Bei der Prüfung der Voraussetzungen des §32 Abs.1 BVerfGG ist dabei ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine gesetzliche Regelung außer Kraft gesetzt werden soll (vgl. BVerfGE 81, 53 [54]). Eine Verschärfung der Anforderungen ergibt sich zusätzlich, wenn eine Regelung mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist (vgl. auch BVerfGE 33, 195 [197]). Die Abwägung nach diesen Maßstäben fällt zuungunsten der Beschwerdeführer aus.
      1. Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweisen sich die Verfassungsbeschwerden jedoch später als begründet, so besteht die Gefahr, daß in der Zwischenzeit über enteignete Objekte verfügt wird oder langfristige obligatorische Nutzungsrechte daran eingeräumt werden. Inwieweit solche Rechtsgeschäfte dazu führen würden, daß sich die rechtlichen Möglichkeiten verschlechtern, den von den Beschwerdeführern geltend gemachten Rückgewähranspuch durchzusetzen, ist eine Frage des einfachen Rechts. Nach den bestehenden Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb und den Fortbestand von Nutzungsverhältnissen bei Veräußerung muß mit einer solchen Verschlechterung der Lage der Betroffenen jedenfalls gerechnet werden. ... Die Beeinträchtigung kann angesichts der in Frage stehenden Grundstückswerte auch von ihrem tatsächlichen Gewicht her nicht als geringfügig angesehen werden ... Andererseits ist zu berücksichtigen, daß Verluste der Beschwerdeführer nachträglich durch eine Entschädigung zumindest finanziell ausgeglichen werden können, wenn sich ihr Begehren als berechtigt erweisen sollte. ...
      2. Auf der anderen Seite würden besonders gewichtige Belange des Gemeinwohls beeinträchtigt, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen, die Verfassungsbeschwerden sich aber später als unbegründet erweisen würden.
      a) Zum einen würde die schon derzeit bestehende Unsicherheit der eigentumsrechtlichen Verhältnisse im Gebiet der neuen Bundesländer dadurch erheblich verstärkt. ...
      b) Entscheidend ins Gewicht fällt darüber hinaus, daß eine einstweilige Anordnung die Gefahr außenpolitischer Nachteile für die Bundesrepublik Deutschland mit sich brächte. Für diese Feststellung bedarf es keiner abschließenden Beurteilung, wie fest die Verhandlungsposition der Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion in der strittigen Frage war. Jedenfalls wird aus der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen beider deutscher Staaten vom 15. Juni 1990 und aus dem Gemeinsamen Brief der Außenminister vom 12. September 1990 deutlich, daß die angegriffene Regelung im Interesse sowohl der Deutschen Demokratischen Republik als auch der Sowjetunion lag und daß sie nicht nur in den Einigungsvertrag als Bestandteil eingeflossen ist, sondern auch Gegenstand der "Zwei-plus-Vier"-Verhandlungen war, die zum Abschluß des Vertrages vom 12. September 1990 führten.
      In der Aussetzung der Regelung könnte danach, unbeschadet der innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Legitimation einer solchen Anordnung, ein Abrücken von der Verhandlungsposition gesehen werden, das geeignet wäre, das Vertrauen in die Verläßlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im völkerrechtlichen Verkehr zu beeinträchtigen. Sie könnte insbesondere zu einer empfindlichen Störung des internationalen Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion mit nachteiligen Folgen für die weitere Zusammenarbeit führen. Das müßte zwar hingenommen werden, wenn sich bei der Entscheidung in der Hauptsache eine Korrektur besatzungsrechtlicher Maßnahmen als verfassungsrechtlich geboten erweisen sollte. Bei der Abwägung im Rahmen der Entscheidung über die einstweilige Anordnung fällt dagegen das Interesse daran, eine solche Störung der außenpolitischen Beziehungen zu vermeiden, erheblich ins Gewicht.
      3. Die nachteiligen Folgen, die für das Gemeinwohl mit dem Erlaß der einstweiligen Anordnung verbunden wären, wiegen danach schwerer als die Nachteile, die auf seiten der Betroffenen drohen, wenn der Erlaß der einstweiligen Anordnung abgelehnt wird.