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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


475. VERANTWORTLICHKEIT VON EINZELPERSONEN

Nr.93/1

Weder das allgemeine Völkerrecht noch das Grundgesetz stehen einer Strafverfolgung von hauptamtlichen Angehörigen des Geheimdienstes der früheren DDR wegen Landesverrats und geheimdienstlicher Agententätigkeit entgegen, selbst wenn diese nur außerhalb des damaligen Gebiets der Bundesrepublik Deutschland gehandelt haben.

Neither general international law nor the Basic Law prevent the criminal prosecution of full-time agents of the secret service of the former German Democratic Republic for treason and secret service activities even if those agents acted exclusively outside of what was then the territory of the Federal Republic of Germany.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.7.1993 (3 StR 347/92), BGHSt 39, 260 (ZaöRV 55 [1995], 829 f.)

Einleitung:

      Die Angeklagten sind als ehemalige ranghohe Offiziere der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wegen ihrer vom Ausland aus gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Ihre Revisionen blieben ohne Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      II. Vorab hatte der Senat zu prüfen, ob völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Einwände, welche die Angeklagten im Anschluß an die Auffassung des Kammergerichts in der eine vergleichbare Sache betreffende Normenkontrollvorlage ... (NJW 1991, 2465) und Stimmen im Schrifttum gegen ihre Strafverfolgung erhoben haben, Veranlassung geben, das Verfahren auszusetzen und ebenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Artikel 100 Abs.1 und 2 GG einzuholen. Dies ist nicht der Fall ...
      Der Senat hat bereits in früheren Haftentscheidungen ebenso wie der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGHSt 37, 305) die Meinung vertreten, daß die Strafverfolgung von hauptamtlichen HVA-Angehörigen wegen Landesverrats oder geheimdienstlicher Agententätigkeit (§§94, 99 StGB) auch dann nicht gegen allgemeine, in innerstaatliches Recht übernommene Regeln des Völkerrechts (Art.25 GG) und gegen das Grundgesetz verstößt, wenn diese Personen nur außerhalb des früheren Gebiets der Bundesrepublik Deutschland gehandelt haben ... Daran hält er fest.
      1. Für den (Tat-) Zeitraum vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland folgt die grundsätzliche Anwendbarkeit der Landesverratsvorschriften schon aus §9 StGB in Verbindung mit §3 StGB ..., jedenfalls aber aus §5 Nr.4 StGB (so BGHSt 37, 305, 307), ohne daß dem völkerrechtliche oder verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen. Auch die Verfolgbarkeit entsprechenden Verhaltens war rechtlich nicht ausgeschlossen ...
      Die Angeklagten Sch. und B. hätten sich im Falle ihrer Ergreifung vor der Wiedervereinigung insbesondere nicht mit Erfolg auf einen aus der sogenannten Staatenimmunität abgeleiteten Schutz vor Strafverfolgung berufen können. Nach diesem völkerrechtlichen Grundsatz sind fremde Staaten und ihre Organe im Falle hoheitlichen Handelns inländischer Gerichtsbarkeit entzogen (sog. sachliche oder funktionelle Immunität ...). Diese allgemeine, gewohnheitsrechtlich begründete Regel betrifft in erster Linie den Bereich des Zivilprozeßrechts. Ob sie im Sinne der Anerkennung durch die weitaus größere Zahl der Staaten ... mit gleicher Geltungskraft auch für die Strafverfolgung Bedeutung hat und fremde Staatsorgane über den Kreis der sogenannte persönliche Immunität genießenden Personen (Staatsoberhäupter, Diplomaten) hinaus schützt, kann auf sich beruhen. Nach allgemeiner Meinung erfährt das Prinzip der Staatenimmunität nämlich im Falle der Spionage eine Ausnahme ... Zwar wird diese Ausnahme im Schrifttum einschränkend auf Fälle der Spionagetätigkeit auf dem Territorium des verfolgenden Staates bezogen und Spionage vom Heimatstaat aus, ohne daß dies in der Staatspraxis ausreichend belegt ist ..., dem Immunitätsschutz unterstellt ... Jedenfalls für diejenigen fremden Personen ist diese Einschränkung der Verfolgbarkeit jedoch nicht gerechtfertigt, die eingebunden in die konkrete nachrichtendienstliche Operation auch außerhalb ihres Heimatstaates derart eng mit unmittelbar handelnden - zudem noch durch die Verleihung von Offiziersrängen vereinnahmten - Staatsbürgern des betroffenen Staates insgeheim zusammenarbeiten und deren Vorgehen bestimmend beeinflussen, wie dies den Angeklagten Sch. und B. zur Last gelegt wird. Ihr Verhalten ist einer Tätigkeit auf dem Gebiet des verfolgenden Staates sachlich gleichzustellen. Es bedeutet seinen materiellen Auswirkungen nach wegen der rechtlichen Zurechnung der unmittelbaren Spionagehandlungen eine vergleichbare Beeinträchtigung der territorialen und personellen Hoheit des betroffenen Staates. Durch die unterschiedslose Gewährung von Immunitätsschutz für die Spionagetätigkeit fremder Staatsorgane vom Ausland aus würde der völkerrechtlich anerkannten, aus dem Schutzprinzip abgeleiteten Befugnis eines Staates, gegen ihn gerichtete Spionagehandlungen auch dann strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie von Ausländern im Ausland begangen werden, ihre praktische Bedeutung weitgehend wieder entzogen.
      2. Die Zulässigkeit der Strafverfolgung ist von dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland unberührt geblieben. Die unveränderte Anwendbarkeit der Bestimmungen über Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit ergibt sich aus Art.315 Abs.4 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990 (BGBl.II, 885 ff.) und aus den übrigen in innerstaatliches Recht übernommenen Regelungen des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 mit seinen Anlagen (Anlage I zum Einigungsvertrag, unter B Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III 1), wo die §§93 ff. StGB und die entsprechenden Rechtsanwendungsvorschriften von der Geltung im Beitrittsgebiet gerade nicht ausgenommen sind ... Allgemeine Regeln des Völkerrechts (a) und Verfassungsrecht (b) stehen nicht entgegen.
      a) Zur Staatensukzession durch vertragliche und damit einverständliche Eingliederung eines Staates in einen anderen, wie sie durch die nach Art.23 aF GG vollzogene Wiedervereinigung geschehen ist, haben sich keine allgemeinen, gewohnheitsrechtlich geltenden Regeln des Völkerrechts entwickelt, welche die Verfolgung der vom Gebiet des beitretenden Staates aus durch dessen Organe begangenen Straftaten gegen den aufnehmenden Staat ausschließen würden ... Auch aus völkerrechtlichen Verträgen, die für die Bundesrepublik unmittelbar oder in Rechtsnachfolge zur DDR (Art.12 des Einigungsvertrages) gelten, folgen keine Pflichten, aus denen sich ein völkerrechtliches Verbot der Strafverfolgung ableiten ließe. Art.15 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 ... und Art.7 Abs.1 Satz 1 der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 ... gehen über den nachfolgender Erörterung vorbehaltenen Schutz des Art.103 Abs.2 GG nicht hinaus.
      Auch sind die Gründe, die vom Kammergericht in seinem erwähnten Vorlagebeschluß ... und von Teilen des Schrifttums für eine entsprechende Anwendung des Art.31 der Haager Landkriegsordnung (RGBl 1910, 107 - HLKO) oder doch eines darin zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens dargelegt worden sind ..., nicht geeignet, ein Strafverfolgungsverbot zu begründen ... Art.31 HLKO, der vorsieht, daß der zu seinem Heer zurückgekehrte Spion im Falle seiner Ergreifung wegen früherer Spionage nicht verantwortlich gemacht werden kann, sondern als Kriegsgefangener zu behandeln ist, betrifft als Sondernorm des Kriegsvölkerrechts sowohl in seinen tatbestandlichen Voraussetzungen als auch in seiner Rechtsfolge einen Sachverhalt, der von dem hier in Frage stehenden derart verschieden ist, daß sich eine entsprechende Anwendung verbietet. Grundsätzlich sind einer analogen Anwendung völkerrechtlicher Vertragsregelungen ohnehin enge Grenzen gesetzt. Sie hängt davon ab, daß im Vertrag selbst oder in der Anwendungspraxis Hinweise zu finden sind, die eine Ausweitung nahe legen. Solche lassen sich für Art.31 HLKO nicht feststellen.
      b) Ein generelles Strafverfolgungsverbot läßt sich aus grundgesetzlichen Regelungen ebenfalls nicht ableiten.
      aa) Die Realisierung der schon vorher zulässigen Strafverfolgung nach der Wiedervereinigung verstößt nicht etwa deswegen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art.3 Abs.1 GG, weil für BND-Angehörige in vergleichbarer Stellung die Strafbarkeit nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches der DDR ... entfallen ist ... Die nach der Wiedervereinigung fortbestehende Strafbarkeit von HVA-Angehörigen wegen zuvor begangenen Landesverrats oder geheimdienstlicher Agententätigkeit unterläge im Hinblick auf die trotz formaler Vergleichbarkeit der Tätigkeiten eingetretene Straffreiheit von BND-Angehörigen nach DDR-Strafrecht nur dann Bedenken nach Art.3 Abs.1 GG, wenn sich dafür keine oder nur sachwidrige Gründe finden ließen. Dies ist nicht der Fall ... Rechtliche Ausgestaltung und Vollzug des von der DDR frei ausgehandelten Beitritts zur Bundesrepublik Deutschland hatten zur Folge, daß das Schutzgut der Staatsschutzvorschriften des StGB-DDR weggefallen ist, während die Bundesrepublik, wenn auch erweitert um die sogenannten neuen Bundesländer, als Schutzobjekt der §§93 ff. StGB fortbesteht und bei abstrakter Betrachtung auch möglichen fortwirkenden Gefahren ausgesetzt ist, die sich auf Grund der früheren Ausspähungstätigkeit der HVA aus der festgestellten Einbindung in das System der Nachrichtendienste des Warschauer Pakts ergeben ... Zudem haben die operativ tätigen HVA-Bediensteten mindestens unter dem Gedanken der Unrechtsteilhabe letztlich mitzuverantworten, daß von ihnen eingesetzte Bürger der Bundesrepublik Deutschland unabhängig von der Wiedervereinigung weiterhin der Strafverfolgung ausgesetzt sind und unter Umständen langjährige Freiheitsstrafen verbüßen müssen. Dagegen trifft die BND-Angehörigen im Hinblick auf die mit der Wiedervereinigung insoweit auch für DDR-Bürger eingetretene Straffreiheit nach DDR-Strafrecht eine vergleichbare Verantwortlichkeit nicht. Bereits diese aus der Eigengesetzlichkeit des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland folgenden Gründe sind ausreichend und sachbezogen genug, um die Differenzierung in den Rechtsfolgen zu rechtfertigen. Bei der Entscheidung der sachlich hier betroffenen Frage, ob und in welchem Umfang Strafnormen wegen nachträglich eingetretener rechtlicher und tatsächlicher Veränderungen für einen Teilbereich ihrer Anwendung "zurückzunehmen" sind, muß dem Gesetzgeber ähnlich wie bei der Entschlußfassung über eine Amnestie ... auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsprinzips ein grundsätzlich weiter Spielraum eingeräumt werden ...
      bb) Die Bestrafung von ehemaligen HVA-Bediensteten wegen Verhaltensweisen, wie sie den Angeklagten Sch. und B. zur Last gelegt werden, hat infolge der Wiedervereinigung ihre innere Rechtfertigung nicht verloren und verstößt nicht gegen das verfassungsrechtlich abgesicherte Übermaßverbot ...
      cc) Verfassungsrechtliche Bedenken folgen auch nicht aus dem Rückwirkungsverbot des Art.103 Abs.2 GG ... Eine auf den Tatzeitraum zurückbezogene, nachträgliche Bewertung des Verhaltens der Angeklagten findet nicht statt. Die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit in Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld standen auf Grund der durch §9 in Verbindung mit §3 StGB, jedenfalls aber durch §5 Nr.4 StGB begründeten Geltung des insoweit ausschließlich maßgebenden Strafrechts der Bunderepublik Deutschland bereits im Zeitpunkt der Tatbegehung abschließend fest. ... Die Tatsache, daß durch den Beitritt der DDR und die daraus folgende Ausdehnung der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik die Zugriffsmöglichkeit erweitert und die von Anfang an zulässige Strafverfolgung verwirklicht worden ist, wird von dem Schutzbereich des Artikels 103 Abs.2 GG nicht erfaßt ...
      dd) Die Angeklagten sind bei ihrem gegen die Bunderepublik Deutschland gerichteten Handeln ersichtlich von dem Fortbestand der DDR und des durch sie gewährleisteten Schutzes vor Strafverfolgungsmaßnahmen der Bundesrepublik ausgegangen. Daraus folgt jedoch selbst bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Wirksamkeit von Gesetzen mit sogenannter unechter Rückwirkung und zu dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs.3 GG) abgeleiteten Vertrauensschutz nicht die Unzulässigkeit der Strafverfolgung ...
      Der Schutz vor fremder Strafverfolgung, der sich aus Rechtsordnung und Hoheitsgewalt der DDR für die HVA-Bediensteten ergab, ist ihnen bereits von ihren eigenen, durch demokratische Wahlen legitimierten Hoheitsträgern mit dem Abschluß des Einigungsvertrages und dessen Vollzug in einer der Bundesrepublik Deutschland nicht zurechenbaren Weise entzogen worden ... Vertrauen in den Fortbestand einer hoheitlich geschaffenen günstigen Sach- und Rechtslage wird nicht generell geschützt ..., sondern nur unter der Voraussetzung, daß eine Wertung aller sachbezogenen Umstände dessen Schutzwürdigkeit ergibt ... Die demnach gebotene Gesamtabwägung muß aber auf der Grundlage des Grundgesetzes und der übrigen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen werden. Aus dieser Sicht kann das Vertrauen von Tätern (auch) im Ausland begangener Taten, der Strafverfolgung wegen der eben durch diese Rechtsordnung begründeten Strafbarkeit zu entgehen, nicht als schutzwürdig anerkannt werden, soll damit nicht zugleich den Regelungen des internationalen Strafrechts ein wesentlicher Teil ihrer inneren Rechtfertigung entzogen werden. ...
      ee) Schließlich bietet auch der von der Verteidigung des Angeklagten B. geltend gemachte Rechtsgedanke innerstaatlicher Rechtsnachfolge weder unter dem Aspekt etwaigen Übergangs von Fürsorgepflichten zu Gunsten von HVA-Angehörigen noch unter dem Gesichtspunkt eines aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verbots widersprüchlichen Verhaltens (Gedanke des venire contra factum proprium ...) eine tragfähige Grundlage für ein allgemein wirkendes Strafverfolgungsverbot ...

Hinweis:

      Zu den verfassungsrechtlichen Fragen teilweise abweichend Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 15.5.1996 (2 BvL 19/91 u.a.), BVerfGE 92, 277.