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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


490. TERRITORIALITÄTSGRUNDSATZ BEI AUSÜBUNG DER STAATSGEWALT

Nr.92/1

[a] Nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (§7 Abs.2 Nr.2 StGB) besteht keine deutsche Gerichtsbarkeit, wenn die verfolgte Auslandstat am Tatort zwar strafbar, aber aufgrund einer Amnestie nicht mehr verfolgbar ist.

[b] Es bleibt offen, ob eine Amnestie des Tatortstaates am deutschen ordre public gemessen werden kann.

[a] According to the principle of vicarious criminal jurisdiction (sec.7 (2) no.2 of the Penal Code) Germany will not have jurisdiction with regard to an offense committed abroad by the person prosecuted if the perpetrator, though the offense is punishable at the place of commission, can no longer be prosecuted there because of an amnesty.

[b] It is left undecided whether an amnesty granted by the state in which the offense is committed is subject to scrutiny according to German public policy (ordre public) standards.

Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluß vom 3.4.1992 (V 1/92), OLGSt §7 StGB Nr.3 (ZaöRV 54 [1994], 492)

Einleitung:

      Die Angeklagte soll 1987 in einem Ausbildungslager der kurdischen PKK im Libanon zwei Menschen ermordet haben. Im Hinblick auf eine im Libanon später verkündete Amnestie verneinte das Oberlandesgericht die deutsche Gerichtsbarkeit für jene Auslandstaten und stellte das Verfahren nach §206a StPO ein.

Entscheidungsauszüge:

      Das ... in einer Sonderbeilage des amtlichen Gesetzblattes der Libanesischen Republik veröffentlichte Gesetz Nr.84 vom 26. August 1991 betreffend eine "Allgemeine Amnestie für alle vor dem 28. März 1991 begangenen Taten unter bestimmten Bedingungen" führt dazu, daß die unter die Amnestie fallenden Taten nicht (mehr) im Sinne des §7 Abs.2 Nr.2 StGB "am Tatort mit Strafe bedroht" sind (A.). Die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten fallen auch unter den Anwendungsbereich des libanesischen Amnestiegesetzes (B.).
      A. Die Regelung des §7 Abs.2 Nr.2 StGB ist ... Ausdruck des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege ... Dieses Prinzip, das lediglich der subsidiären Ergänzung der Strafgewalt anderer Staaten dient, greift ein, wenn die nach dem Territorialitätsprinzip an sich zuständige ausländische Strafgewalt nicht tätig werden kann, weil der Beschuldigte im Inland ergriffen worden ist, aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht an das Ausland (weder an den Staat des Tatortes noch an den Heimatstaat ...) ausgeliefert wird. Das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege schließt die im internationalen Strafrecht unvermeidlichen Lücken und stellt dadurch sicher, daß kein flüchtiger Straftäter im Zufluchtsstaat straflos bleiben muß, weil es an einem Anknüpfungspunkt für dessen Strafgewalt fehlt. Ihrem Sinne nach erfordert stellvertretende Strafrechtspflege zunächst das Bestehen einer identischen Norm im Tatortstaat ...
      1. In diesem Zusammenhang sind ... auch etwaige Verfolgungs- und Verfahrenshindernisse des Tatortrechts (z.B. Verjährung, Amnestie) beachtlich. Tritt ... der inländische Richter an die Stelle des ausländischen (wobei er allerdings die Strafgewalt des eigenen Staates ausübt ...), kann dieses Eingreifen nicht zu einer - gegenüber dem Tatortrecht - weitergehenden strafrechtlichen Verfolgbarkeit führen ... Der Gesichtspunkt der Subsidiarität des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege erlaubt lediglich, die Strafverfolgung durch ein inländisches Gericht anstelle des ausländischen Richters im Umfang des Tatortrechts vorzunehmen, schon um bereits dem Anschein einer unzulässigen "Anmaßung" weitergehender Strafverfolgungsbefugnisse der inländischen Strafverfolgungsbehörden zu entgehen. Aus dem Grundgedanken des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege sind auch Verfolgungs- und Verfahrenshindernisse des ausländischen Rechts vom inländischen Richter zu beachten ...
      2. Für diese Auslegung spricht zum einen auch der Inhalt der Erörterungen während des Gesetzgebungsverfahrens zu §7 Abs.2 Nr.2 StGB in seiner heutigen Fassung. ... Für die oben dargelegte Auslegung sprechen zum anderen aktuelle völkerrechtliche Tendenzen.
      In dem vom Minister-Komitee des Europarats autorisierten Report "Extra-Territorial Criminal Jurisdiction" (1990) wird gegenüber Ländern, die sich beim Prinzip der Stellvertretung allein mit der Feststellung materieller Strafbarkeit zufriedengeben, festgestellt, dies sei zu einem gewissen Grad "eine Aufgabe des Konzepts der 'Repräsentation' im reinen Sinne" ... In der Resolution der UN-Vollversammlung vom 3.4.1991 betreffend einen UN-Modellvertrag über "Transfers of proceedings in criminal matters" heißt es u.a.: "Soweit vereinbar mit dem Recht des ersuchten Staates, soll jede Handlung im Hinblick auf gerichtliche Verfahren oder verfahrensmäßige Anforderungen, ausgeführt im ersuchenden Staat in Übereinstimmung mit seinem Recht, dieselbe Gültigkeit im ersuchten Staat haben, als wäre die Handlung in jenem Staat oder durch die Behörde jenes Staates durchgeführt worden" ...
      In beiden Papieren kommt eine internationale Rechtsüberzeugung zum Ausdruck, wonach stellvertretende Strafrechtspflege den Gedanken der Subsidiarität streng beachten sollte. Dies muß auch für die Frage gelten, ob die angeklagte Tat im Tatortstaat auch verfolgbar ist. ...
      5. Es kann dahinstehen, ob ... Verfolgungs- und Verfahrenshindernisse des Tatortrechts uneingeschränkt, also ohne Rücksicht auf ordre public-Erwägungen, Geltung haben ..., denn Bedenken gegen die Wirksamkeit der libanesischen Straffreiheitsregelung unter dem Gesichtspunkt des ordre public bestehen auch nicht insoweit, als das libanesische Gesetz in Artikel 2 Nr.3c unter bestimmten Voraussetzungen eine Straffreiheit selbst für Tötungsdelikte vorsieht. Straffreistellungen werden traditionellerweise aus einer Vielfalt von Anlässen und Gründen völkerrechtlich toleriert. Angesichts der allgemein bekannten politischen Situation im Libanon widerspricht eine weitgehende Straffreistellung auch für Tötungsdelikte, die das Ziel verfolgt, zur Befriedung eines ganz außergewöhnlichen politischen und sozialen Zustandes (Situation eines Bürgerkriegs oder bürgerkriegsähnliche Verhältnisse) beizutragen, einer an rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichteten Rechts- und Sittenordnung nicht. Anzeichen für Willkür oder sonstigen Rechtsmißbrauch sind nicht erkennbar. Auch das deutsche Recht kennt unter besonderen Umständen die Möglichkeit einer weitgehenden Strafmilderung selbst für Fälle des Mordes (vgl. Art.4 §3 Satz 2 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten vom 9. Juni 1989 ...).
      B. ... 5. Der Senat sieht keine Veranlassung, der Anregung des Generalbundesanwalts... nachzugehen, eine "klarstellende Äußerung" zur Zielrichtung der Amnestie bei der libanesischen Botschaft einzuholen, weil es hierauf nicht ankommt. Es mag sein, daß es vorrangiges Ziel und Motiv zum Erlaß des libanesischen Amnestiegesetzes war, Straftaten "der Bürgerkriegsparteien untereinander" straffrei zu stellen. Dem Wortlaut des Amnestiegesetzes ist jedoch weder eine Differenzierung nach Art der politischen Straftaten zu entnehmen, noch eine Einschränkung des Anwendungsbereiches in persönlicher Hinsicht auf Libanesen noch in räumlicher Hinsicht auf die von den staatlichen Stellen des Libanons auch tatsächlich kontrollierten Gebietsteile oder Landstriche.

Hinweis:

      Der vorstehende Beschluß wurde durch den Bundesgerichtshof (Beschluß vom 24.6.1992 - 1 StE 11/88 - StB 8/92 - wistra 1992, 350) wegen eines Verfahrensmangels (fehlerhafte Besetzung des Spruchkörpers) aufgehoben; die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Zur Sache selbst bemerkte der BGH folgendes: "II. ... 1. Der Wortlaut in §7 StGB weist darauf hin, daß mit der wiederholt benutzten Wendung der "am Tatort mit Strafe bedrohten Tat" entsprechend dem bisherigen Verständnis in der Rechtsprechung einheitlich die materielle Strafbarkeit der Tat und nicht auch deren verfahrensrechtliche Verfolgbarkeit im sogenannten Tatortstaat gemeint ist. ... 2. Die Frage, ob das durch den Wortlaut nahegelegte Ergebnis, dem keine zwingenden Gründe aus der Entstehungsgeschichte des §7 StGB entgegenstehen, nach den Grundsätzen teleologischer Auslegung für den Fall zu korrigieren ist, daß durch nachträgliche gesetzliche Regelung die Verfolgbarkeit der Tat im Tatortstaat ausgeschlossen wird, bedarf im vorliegenden Fall solange keiner Entscheidung, als nicht eindeutig geklärt ist, ob die der Angeklagten zur Last gelegten Mordtaten von dem libanesischen Amnestiegesetz überhaupt erfaßt werden. Eine solche Klärung erscheint ... bisher nicht in genügendem Maße erfolgt ..."