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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


500. ORGANE DES DIPLOMATISCHEN UND KONSULARISCHEN VERKEHRS

Nr.92/1

[a] Ein Immunität genießender Diplomat ist nicht gehindert, gerichtlichen Rechtsschutz vor den Gerichten des Empfangsstaates aktiv in Anspruch zu nehmen.

[b] Dem Anspruch eines ausländischen Diplomaten auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz stehen weder Art.33 WÜD noch andere völkerrechtliche Regeln entgegen.

[a] A diplomat enjoying immunity is not prevented from actively seeking judicial protection from the courts of the receiving state.

[b] Neither Art.33 of the Vienna Convention on Diplomatic Relations nor other rules of public international law vitiate a foreign diplomat's claim to social assistance benefits pursuant to the Federal Social Security Act.

Nordrhein-Westfälisches Oberverwaltungsgericht, Beschluß vom 11.2.1992 (8 B 536/92), NJW 1992, 2043 (ZaöRV 54 [1994], 499)

Einleitung:

      Die Antragstellerin, die zum diplomatischen Personal der somalischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland gehört, begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes (§123 Abs.1 VwGO) Sozialhilfe nach §120 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) für sich und ihre Familienangehörigen. Sie macht geltend, ihr Entsendestaat habe seine Gehaltszahlungen an alle Diplomaten eingestellt. Ihr Antrag hatte in beiden Instanzen Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Es bestehen keine Bedenken gegen die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit. Zwar sind nach §18 GVG die Mitglieder der im Geltungsbereich dieses Gesetzes (GVG) errichteten diplomatischen Missionen, ihre Familienmitglieder und ihre privaten Hausangestellten nach Maßgabe des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD) von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit. Nach Art.31 Abs.1 WÜD genießt ein Diplomat nicht nur Immunität von der Strafgerichtsbarkeit des Empfangsstaates; ihm steht auch Immunität von dessen (Zivil- und) Verwaltungsgerichtsbarkeit zu. Diese Regelung des §18 GVG i.V.m. Art.31 Abs.1 WÜD bezieht sich nach ihrem Wortlaut und nach ihrem Sinn und Zweck aber allein auf den Schutz des Diplomaten vor staatlichen Eingriffen seitens des Empfangsstaates. Der den Schutz der Immunität genießende Diplomat ist dagegen nicht gehindert, als Antragsteller oder Kläger gerichtlichen Rechtsschutz vor den Gerichten des Empfangsstaates aktiv in Anspruch zu nehmen. Dies ergibt sich auch aus Art.32 Abs.3 WÜD: Strengt ein Diplomat oder eine Person, die nach Maßgabe des Art.37 WÜD Immunität von der Gerichtsbarkeit genießt, ein Gerichtsverfahren an, so können sie sich nach Art.32 Abs.3 WÜD in bezug auf eine Widerklage, die mit der Hauptklage in unmittelbarem Zusammenhang steht, nicht auf die Immunität von der Gerichtsbarkeit berufen. Die Vorschrift geht also von der Möglichkeit einer von einem Diplomaten vor einem Gericht des Empfangsstaates erhobenen Klage aus ...
      Nach §120 Abs.1 Satz Halbsatz 1 BSHG ist Personen, die nicht Deutsche i.S. des Art.116 Abs.1 GG sind und sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes tatsächlich aufhalten, u.a. Hilfe zum Lebensunterhalt nach diesem Gesetz zu gewähren. Diese Voraussetzungen erfüllen die Antragsteller. ... Der Anwendbarkeit der Vorschrift des §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG steht nicht entgegen, daß die Antragstellerin Inhaberin eines vom Auswärtigen Amt ausgestellten roten Diplomatenausweises ... und nach wie vor Mitglied des diplomatischen Personals der Botschaft des Staates Somalia in der Bundesrepublik Deutschland ist. Weder die den Anspruch auf Sozialhilfe für Ausländer regelnde Vorschrift des §120 BSHG noch andere Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes schließen Diplomaten sowie in ihrem Haushalt lebende Familienangehörige grundsätzlich von der Berechtigung aus, Sozialhilfe nach §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG zu beanspruchen. Zwar hat nach §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG keinen Anspruch auf Sozialhilfe, wer sich in den Geltungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen. Ein solcher Fall liegt hier jedoch ersichtlich nicht vor.
      Der Anwendbarkeit des §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG stehen auch keine Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts entgegen. Ein Vorrang über- und zwischenstaatlichen Rechts vor inländischen Normen ist zwar im Bundessozialhilfegesetz nicht ausdrücklich normiert. In §30 Abs.2 des auch für Ansprüche auf Sozialhilfe geltenden Sozialgesetzbuches - Erstes Buch - ist jedoch bestimmt, daß Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts "unberührt" bleiben. Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts, die eine Anwendbarkeit des §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG auf Diplomaten und die in ihrem Haushalt lebenden Familienangehörigen ausschließen, sind nicht ersichtlich. Namentlich stehen die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen, dem sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch der Staat Somalia als Vertragsstaaten beigetreten sind ..., einer Anwendbarkeit des §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG auf Diplomaten nicht entgegen. Ein Ausschluß eines Anspruchs nach §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG ergibt sich insbesondere nicht aus Art.33 Abs.1 WÜD. Bei der Auslegung dieser und anderer Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen ist zu beachten, daß es sich insoweit um einen mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrag handelt, dessen chinesischer, englischer, französischer, russischer und spanischer Wortlaut nach Art.53 WÜD gleichermaßen verbindlich ist. Nach geltendem Völkergewohnheitsrecht sind die verschiedensprachigen Fassungen eines völkerrechtlichen Vertrages in jeder dieser authentischen Sprachen grundsätzlich gleichermaßen maßgebend. Art.33 Abs.1 des Wiener Übereinkommens (Konvention) über das Recht der Verträge (WVK) bestätigt diesen völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz ausdrücklich ... Diese Gleichrangigkeit wird durch die in Art.33 Abs.2 WVK fixierte völkerrechtliche Vermutung unterstrichen, daß die Ausdrücke eines Vertrages in jedem verbindlichen Wortlaut die gleiche Bedeutung haben. Auch wenn die im Bundesgesetzblatt abgedruckte deutsche Übersetzung der Vorschriften des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen gem. Art.53 WÜD keine völkerrechtliche Verbindlichkeit beanspruchen kann, kann sie jedoch hier der weiteren Prüfung zugrunde gelegt werden. Denn bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Überprüfung lassen sich insoweit Bedeutungsunterschiede gegenüber dem i.S. des Art.53 WÜD verbindlichen Wortlaut der authentischen Vertragstexte nicht feststellen. ...
      Art.33 Abs.1 WÜD schließt einen Sozialhilfeanspruch eines Diplomaten und seiner Familienangehörigen nach §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG nicht aus. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Regelung. Nach Art.33 Abs.1 WÜD ist, vorbehaltlich des - hier nicht einschlägigen - Abs.3, ein Diplomat in bezug auf seine Dienste für den Entsendestaat von den im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit befreit. Nach seiner üblichen Bedeutung (vgl. Art.31 Abs.1 WVK) bezeichnet der Begriff "befreit" das Freisein von Beschränkungen oder Pflichten. Dagegen erfaßt er üblicherweise nicht die Einschränkung oder den Ausschluß von Rechten, Ansprüchen oder Berechtigungen. Wem Rechte genommen oder nicht gewährt werden, wird nach dem üblichen Sprachgebrauch nicht von diesen Rechten "befreit". Im übrigen bezieht sich die in Art.33 Abs.1 WÜD normierte Freistellung des Diplomaten von den im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit "auf seine Dienste für den Entsendestaat". Die Vorschrift beantwortet die Frage, ob die im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit auf das zwischen dem Diplomaten und seinem Entsendestaat bestehende Dienstverhältnis Anwendung finden, d.h. insoweit zu beachten sind. Sie trifft aber keine Aussage über mögliche Ansprüche des Diplomaten, die sich unabhängig von seinem Dienstverhältnis aus Vorschriften des [Empfangs]staates ergeben. Daß es bei der Regelung allein um die Freistellung und Befreiung von Pflichten geht, die sich aus den im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit ergeben, folgt auch aus dem Zusammenhang der Regelung des Art.33 Abs.1 WÜD mit der des Art.33 Abs.3 WÜD. Beschäftigt nämlich ein Diplomat Personen, auf die die in Art.33 Abs.2 WÜD vorgesehene Befreiung keine Anwendung findet, so hat er die Vorschriften über soziale Sicherheit zu beachten, die im Empfangsstaat für Arbeitgeber gelten. ... Der Zusammenhang zwischen Art.33 Abs.1 und Art.33 Abs.3 WÜD erhellt damit, daß es jeweils allein um den Umfang der Befreiung des Diplomaten von denjenigen Pflichten geht, die sich "in bezug auf seine Dienste für den Entsendestaat" aus den im Empfangsstaat geltenden Vorschriften über soziale Sicherheit ergeben. Aus der in Art.33 Abs.1 WÜD verankerten Freistellung von Pflichten in bezug auf das Dienstverhältnis zwischen dem Diplomaten und seinem Entsendestaat kann jedoch nicht geschlossen werden, daß es dem Empfangsstaat selbst in Notfällen verboten wäre, Einrichtungen der sozialen Sicherheit oder soziale Fürsorgemaßnahmen auf Anforderung hin zur Verfügung zu stellen.
      Es ist bei einer in diesem Verfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage auch nicht ersichtlich, daß eine Gewährung von Sozialhilfe nach §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG gegen andere Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über die diplomatischen Beziehungen oder sonst gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln des Völkerrechts verstieße.
      Zwar würde eine dauerhafte Alimentierung einzelner oder gar aller Mitglieder des diplomatischen Personals der Botschaft eines Entsendestaates durch den Empfangsstaat die Gefahr begründen, daß die Diplomaten und damit die betreffende Botschaft unter Umständen die Aufgaben nicht mehr ordnungsgemäß wahrnehmen könnten, die ihnen durch Art.3 Abs.1 WÜD gestellt sind. Danach ist es u.a. Aufgabe einer diplomatischen Mission, den Entsendestaat im Empfangsstaat zu vertreten, die Interessen des Entsendestaates und seiner Angehörigen im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen und mit der Regierung des Empfangsstaates zu verhandeln. Eine dauerhafte Alimentierung durch Behörden des Empfangsstaates könnte Abhängigkeitsverhältnisse schaffen und begründen, die eine wirksame Vertretung der Interessen des Entsendestaates und seiner Angehörigen im Empfangsstaat unter Umständen erschweren, wenn nicht verhindern könnten. Deshalb könnte eine dauerhafte Alimentierung von Mitgliedern des diplomatischen Personals einer Botschaft durch den Empfangsstaat im Widerspruch zu den normierten Aufgaben und Zielen stehen, die Art.3 Abs.1 WÜD einer diplomatischen Mission stellt. Dieser Zielsetzung entspricht es, daß der jeweilige Entsendestaat grundsätzlich allein für die soziale Sicherheit seines diplomatischen Personals verantwortlich ist. Soweit jedoch ein Entsendestaat seiner Verpflichtung zur Gewährung von ausreichendem Lebensunterhalt gegenüber seinem diplomatischen Personal in einer Weise nicht nachkommt, daß dieses in akute Not oder gar in die Gefahr des Verhungerns gerät, läßt sich weder in den zitierten noch anderen Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen noch - soweit ersichtlich - dem Völkergewohnheitsrecht entnehmen, daß die Behörden des Empfangsstaates keine Maßnahmen ergreifen dürfen, um das Leben, die Gesundheit und die Würde des in akute Not geratenen Diplomaten und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen zu schützen. Soweit ein Empfangsstaat der Auffassung ist, ein in wirtschaftliche Not und in Abhängigkeit von Sozialleistungen geratener Diplomat könne die ihm obliegenden Pflichten nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen nicht mehr hinreichend wahrnehmen, steht es ihm frei, gegebenenfalls auf eine Abberufung der betreffenden Person oder die Beendigung ihrer Tätigkeit nach Art.9 Abs.1 oder 2 WÜD zu drängen und die erforderlichen Schritte einzuleiten.
      Auch die Immunität eines Diplomaten oder einer Person, die nach Maßgabe des Art.37 WÜD Immunität von der Gerichtsbarkeit genießt, steht einer Anwendbarkeit des §120 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG auf diesen Personenkreis nicht entgegen.

Hinweis:

      Im anschließenden Hauptsacheverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 29.2.2996 (5 C 23.95, BVerwGE 100, 300) entschieden, daß die Aufgaben des diplomatischen Dienstes und die "von alters her anerkannte besondere Stellung des Diplomaten" (vgl. die Präambel zum WÜB) einen Sozialhilfebezug im Empfangsstaat in der Regel ausschlössen. Nur ausnahmsweise komme ein Sozialhilfebezug von ausländischen Diplomaten auch ohne ihr vorheriges Ausscheiden aus dem diplomatischen Dinest des Entsendestaates in Betracht, wenn dieser handlungsunfähig (geworden) sei, der Diplomat nicht in den Entsende-(Heimat-)staat zurückkehren könne und seine diplomatische Mission zumindest faktisch erloschen sei. Insoweit verwies das Bundesverwaltungsgericht die Sache zur weiteren Aufklärung an die Tatsacheninstanz zurück.