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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1993


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Christiane E. Philipp


IX. Europäische Gemeinschaften43

1. Gemeinschaftsrecht und innerstaatliches Recht

       64. Am 7.2.1992 wurde in Maastricht der am 9./10.12.1991 beschlossene Vertrag über die Schaffung einer Europäischen Union von den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) unterzeichnet (abgedr. in EurArch 1992, D 177). Der sog. Maastrichter Vertrag regelt als wichtigste Neuerung im Bereich des Gemeinschaftsrechtes die Einführung einer Unionsbürgerschaft (Art. 8–8e EWGV n.F.), die Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 102a–109m EWGV n.F.), die Neuordnung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik, die weitere Ausgestaltung insbesondere der Umwelt-, Kohäsions- und Forschungspolitik (Art. 130a–130t EWGV n.F.), neue Gemeinschaftspolitiken u.a. im Bildungs-, Kultur-, Gesundheits- und Industriebereich (Art. 126–130 und 130u–130y EWGV n.F.), eine gemeinsame Visapolitik (Art. 100c EWGV n.F.), eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art. J–J 11 des Maastrichter Vertrages), die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Art. K–K 9 des Maastrichter Vertrages) und enthält zudem einige institutionelle und verfahrensrechtliche Änderungen (Art. 137 ff., 189b EWGV n.F.).

       Im Rahmen der Diskussion im Zuge der Ratifikation des Vertrages durch die Bundesrepublik Deutschland wurde mit Gesetz vom 21.12.1992 (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992, BGBl. I, 2086) das Grundgesetz in einer Reihe von Vorschriften (u.a. die Art. 23, Art. 28 Abs. 1 Satz 3, Art. 52 Abs. 3a und Art. 88 Satz 2) geändert. Am 2.12.1992 beschloß der Bundestag das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag; diesem Gesetz stimmte der Bundesrat am 18.12.1992 zu, so daß das Gesetz am 31.12.1992 in Kraft treten konnte (Gesetz vom 28.12.1992 zum Vertrag vom 7.2.1992 über die Europäische Union, BGBl. 1992 II, 1251). Sowohl gegen das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag als auch gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes richteten sich mehrere Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgericht entschied mit Urteil vom 12.10.1993 (2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92).

       Der Bf. zu 1 hatte zum einen die Verletzung einer Reihe von Grundrechten (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Satz 2, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Vgl. dazu die Ausführung des Gerichtes in Abschnitt A II 1b), zum anderen eine Verletzung seines aus Art. 38 GG abgeleiteten Rechtes auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt geltend gemacht. Die Bf. zu 2, in der Bundesrepublik Deutschland gewählte Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, die ihre Verfassungsbeschwerde jedoch als Bürger der Bundesrepublik Deutschland erhoben, machten im wesentlichen eine Verletzung ihrer grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 20 Abs. 4 sowie Art. 38 Abs. 1 und 2 GG geltend. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts verwarf die Verfassungsbeschwerde der Bf. zu 2 als unzulässig. Die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu 1, erklärte das Gericht, soweit der Bf. eine Verletzung seiner Rechte aus Art.38 GG geltend gemacht hatte für zulässig, wies sie jedoch insoweit als unbegründet zurück. Unmittelbar nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wurde die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland hinterlegt, so daß der Vertrag am 1.11.1993 gem. dessen Art. R II in Kraft treten konnte.

       Im Hinblick auf den Bf. zu 1 führte das Gericht aus, daß dieser hinreichend dargelegt habe, daß das Zustimmungsgesetz sein Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG verletzen könne. Art. 38 Abs. 1 und 2 GG gewährleiste den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen. Gebe der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse auf, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berühre dies den Sachbereich, auf den sich der demokratische Gehalt des Art. 38 GG beziehe. Im Hinblick auf die Europäische Union und die dazu gehörigen Gemeinschaften ermächtige Art. 23 Abs. 1 GG den Bundesgesetzgeber, unter den dort genannten Voraussetzungen der Europäischen Union die eigenständige Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG einzuräumen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG). Das Recht des Bf. zu 1 aus Art. 38 GG könne demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deuschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaft übergehe, daß die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt würden. Im Ergebnis, so das Gericht, erscheine es nach diesem Vorbringen möglich, daß das Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag den Bf. zu 1 in seinem Recht aus Art. 38 GG verletze.

       Im Hinblick auf die von den Bf. zu 2 geltend gemachte Verletzung des Art. 38 GG führte das Gericht aus: Das Grundgesetz gewähre individuelle Rechte nur im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung, nicht jedoch für das Verfahren oder den Inhalt einer Verfassungsneugebung. Art. 79 Abs. 3 GG binde die staatliche Entwicklung in Deutschland an den in ihm bezeichneten Kerngehalt der grundgesetzlichen Ordnung und suche so die geltende Verfassung gegenüber einer auf eine neue Verfassung gerichteten Entwicklung zu festigen, ohne selbst die verfassungsgebende Gewalt normativ binden zu können. Er ziehe demgemäß der verfassungsändernden Gewalt Grenzen und schließe damit förmlich aus, ein verfassungsänderndes Gesetz, das den verfassungsfesten Kern des Grundgesetzes antaste, im Wege eines Volksentscheides zu legitimieren.

       Soweit die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu 1 zulässig sei, sei sie jedoch unbegründet.

       Das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und durch deren Ausübung Einfluß zu gewinnen, schließe es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erkläre, verletzt werde. Zu dem gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips gehöre, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen ließen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet würden. Entscheidend sei, daß ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau, erreicht werde. Das Demokratieprinzip hindere mithin die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft sei aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert sei. Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolge demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten. Hinzu trete, im Maße des Zusammenwachsens der Europäischen Nation zunehmend, innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament. Vermittelten die Staatsbürger, wie gegenwärtig, über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, sei mithin der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Aus alledem folge, daß dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müßten.

       Art. 38 GG sei dann verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der supranationalen Europäischen Gemeinschaften öffne, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festgelegt habe. Stehe nicht fest, in welchem Umfang und Ausmaß der deutsche Gesetzgeber der Verlagerung der Ausübung der Hoheitsrechte zugestimmt habe, so werde die Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die Europäischen Gemeinschaften ermöglicht. Dies käme einer Generalermächtigung gleich und wäre damit eine Entäußerung, gegen die Art. 38 GG schütze. Entscheidend sei, daß die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die daraus sich ergebenden Rechte und Pflichten – insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Rechtsraum – für den Gesetzgeber im Vertrag umschrieben voraussehbar und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmt normiert worden seien. Das bedeute zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unionsvertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigung nicht mehr vom Zustimmungsgesetz für diesen Vertrag gedeckt seien. Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unionsvertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liege, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Daraus resultiere, daß das Bundesverfassungsgericht die Einräumung von Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften hier nur am Maßstab des Gewährleistungsinhaltes des Art. 38 GG prüfen könne. Dieser Gewährleistungsinhalt werde durch das Zustimmungsgesetz, wie sich aus dem Inhalt des Vertrages ergebe, nicht verletzt: Der Vertrag begründe einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen werde und deren nationale Identität achte; er betreffe die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht die Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat. Die Aufgaben der Europäischen Union und die zu ihrer Wahrnehmung eingeräumten Befugnisse würden dadurch in einer hinreichend voraussehbaren Weise normiert, daß das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eingehalten, keine Kompetenz für die Europäische Union begründet und die Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und Befugnisse durch Europäische Union und Europäische Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und Vertragsänderung abhängig gemacht würden, mithin der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente vorbehalten würden.



      43 Angesichts der Vielzahl (streitbeendender) Entscheidungen mit europarechtlichem Bezug wurden Beschlüsse zur Vorlage an den EuGH nur in Ausnahmefällen aufgenommen.