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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1993


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Christiane E. Philipp


XIV. Doppelbesteuerungsabkommen

       101. In der jüngeren Vergangenheit war eine der meistdiskutierten Fragen des internationalen Steuerrechts diejenige nach der rückwirkenden Anwendbarkeit des neuen Doppelbesteuerungsabkommen-Italien. Dieses DBA trat bekanntlich am 27.12.1992 in Kraft73 und brachte namentlich für den Bereich der Arbeitnehmerbesteuerung einschneidende Änderungen mit sich. Gerade diese – im Normalfall für den Bürger ungünstigen – Neuerungen sind nach dem Protokoll zum Abkommen (BStBl I 1990, 406) und dem entsprechenden Zustimmungsgesetz (BStBl I 1990, 396) sogar rückwirkend zum Veranlagungszeitraum 1990 anwendbar. Umstritten war die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Rückwirkung. Der Bundesfinanzhof hatte sich in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit der Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung dieser Vorschriften auseinanderzusetzen (Beschluß vom 10.11.1993 – I B 122/93 = Betriebsberater 1994, 195 ff.).

       Das Gericht entschied: Die in Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10.8.1990 vorgesehene rückwirkende Anwendung der Protokollvorschriften Nr. 22 Buchst.b i.V.m. Nr. 16 Buchst. e zum DBA-Italien 1989 auf den 1.1.1990 begründet keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit entsprechend geänderter Einkommensteuerbescheide 1990. Die Anwendung des Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10.8.1990 sei auch verfassungsrechtlich unbedenklich. In bezug auf die unter Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10.8.1990 fallenden Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bestehe eine Rückwirkung darin, daß erst mit dem Inkrafttreten des DBA-Italien 1989 am 27.12.1992 die Vorschrift auf die Veranlagungszeiträume 1990–1992 materiell-rechtlich anwendbar wurde. Insoweit liege eine echte Rückwirkung vor. Das Bundesverfassungsgericht habe in ständiger Rechtsprechung eine echte Rückwirkung für zulässig erachtet, wenn der Bürger in dem Zeitpunkt, in dem der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen werde, mit einer Änderung der Gesetzeslage habe rechnen müssen. Ein Vertrauensschutz in den Fortbestand der ursprünglichen Rechtslage falle grundsätzlich mit dem endgültigen Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages weg. Unerheblich sei, daß im Streitfall mit dem endgültigen Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages noch keine völkerrechtliche Verbindlichkeit des Abkommens eingetreten sei. Die insoweit bestehenden Unsicherheiten hätten nicht den Inhalt des DBA-Italien 1989 betroffen, sondern lediglich die Voraussetzung seiner Ratifizierung in Italien. Diese müßten von den Bürgern hingenommen werden. Dies gelte auch dann, wenn wie im Falle des DBA-Italien 1989, das völkerrechtliche Abkommen erst rund 2 1/2 Jahre später in Kraft trete. Entscheidend sei lediglich, daß der Deutsche Bundestag das Zustimmungsgesetz zum DBA-Italien 1989 am 10.5.1990 in dritter Lesung beschlossen habe. Von diesem Tage an hätten die Bürger mit einer rückwirkenden Änderung der Gesetzeslage rechnen müssen. Auch habe der Deutsche Bundestag am 10.5.1990 die rückwirkende Anwendung des Zustimmungsgesetzes auf den 1.1.1990 vorsehen können, soweit die nach altem Recht zu ändernden Rechtsfolgen noch nicht eingetreten waren.

       Das Gericht verwies ferner darauf, daß das Bundesverfassungsgericht die Rückwirkung von Gesetzen dann als verfassungsrechtlich zulässig angesehen habe, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls die Rückwirkung rechtfertigten. Art. 3 Abs. 1 GG verlange für das Einkommenssteuerrecht, daß die Einkommenssteuer die Steuerpflichtigen rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belaste. Würde die Gleichheit in der Steuerbelastung durch eine sachlich nicht gerechtfertigte Steuerbefreiung verfehlt, so könne dies die Verfassungswidrigkeit der Steuerbefreiungsvorschriften nach sich ziehen. Die in Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10.8.1990 vorgesehene Rückwirkung habe dem Ziel gedient, die durch Art. 7 und 11 DBA-Italien 192574 eingetretene Ungleichheit in der Steuerbelastung unbeschränkt Steuerpflichtiger auszugleichen. Diese beiden Vorschriften hätten nämlich die Steuerbefreiung von Einkünften aus in Italien ausgeübter nichtselbständiger Arbeit deshalb vorgesehen, weil die Einkünfte in Italien hätten besteuert werden sollen. Tatsächlich habe die Regelung jedoch eine an sich nicht beabsichtigte Steuerbefreiung von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die in dem Nichtansässigkeitsstaat nur kurzfristig ausgeübt wurde, in beiden Vertragsstaaten zur Folge gehabt. Es habe ein öffentliches Gemeinwohlinteresse vorgelegen, diesen Zustand zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden. Schließlich stellte der Bundesfinanzhof fest, daß die rückwirkende Anwendung von Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10.8.1990 auch nicht Art. 220 des EWG-Vertrages betreffe.

       Vgl. zu dem gesamten Themenkomplex auch noch den Beschluß des hessischen Finanzgerichtes vom 26.5.1993, 11 V 655/93 = EFG Nr. 10, 1993, 638 ff., den Beschluß vom 22.7.1993 des Finanzgerichtes München – 16 V 1807/93 = EFG 1993, Nr. 10, 636 ff., sowie den Beschluß vom 11.8.1993 – 9 V 25/93 des Finanzgerichtes Baden-Württemberg = EFG 1993 Nr. 12, 771 ff.



      73 BGBl. 1993 II, 59.

      74 RGBl. 1925 II, 1145.