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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1993


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Christiane E. Philipp


III. Wirkungen und Grenzen staatlicher Souveränität

1. Grenzen der Ausübung eigener Staatsgewalt

       5. Im Anschluß an das Urteil des Bundesgerichtshofes im sogenannten 1. Mauerschützen-Urteil vom 3.11.199211 mußte sich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 25.3.1993 (5 StR 418/92 = NJW 1993, 1932 ff.) erneut mit der Beurteilung vorsätzlicher Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR an der Berliner Mauer befassen. In diesem sogenannten 2. Mauerschützen-Urteil hielt der BGH an seiner bisherigen Rechtsprechung fest.

       6. In seinem Urteil vom 26.8.1993 (4 StR 399/93 = MDR 1994, 79 ff. = NStZ 94, 233 ff.) befand der BGH über die Strafrechtsgeltung für vor dem Beitritt der DDR Übergesiedelte. Unbestritten sei, so das Gericht, daß gemäß Art. 8 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (BGBl 1990 II, 889), von wenigen Ausnahmen abgesehen, im gesamten Beitrittsgebiet das Recht der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sei. Hieraus folge, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland den gesamten Regelungsbereich des DDR-Rechtes, einschließlich der in der DDR vor dem Beitritt entstandenen Ansprüche auf die Verfolgung strafbarer Handlungen, "in sich aufgenommen" habe. Damit stehe jedoch noch nicht fest, in welcher Weise die Verfolgung von "Alttaten" im Einzelfall zu erfolgen habe, insbesondere, ob insoweit das materielle Strafrecht der DDR oder das der Bundesrepublik Deutschland zur Anwendung komme. Das Gericht ging davon aus, daß sich aus der völkerrechtlichen Beurteilung der durch den Beitritt entstandenen "Rechtsnachfolge" entgegen der in der Literatur vertretenen Auffassung keine Rückschlüsse ziehen ließen. Die hier einschlägige Kollisionsnorm sei Art. 315 EGStGB. Aus der Verweisung von Art. 315 Abs. 1 EGStGB auf § 2 StGB ergebe sich, daß auf "Alttaten" grundsätzlich das zur Tatzeit geltende Recht der DDR zur Anwendung gelangen solle, es sei denn, das Recht der Bundesrepublik Deutschland ließe eine mildere Beurteilung zu (§ 2 Abs. 3 StGB). Eine Einschränkung erfahre diese allgemeine Regelung jedoch durch Art. 315 Abs. 4 EGStGB, wonach Abs. 1 keine Anwendung finde, soweit für die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon vor Wirksamwerden des Beitrittes gegolten habe.

       Letzteres treffe nach § 7 Abs. 2 Ziff. 1, 2. Alternative StGB auf Bürger der DDR zu, die nach der Tat Deutsche im Sinne des § 7 Abs. 2 StGB geworden seien. Freilich gelte die "Neubürgerregelung" nicht für Bürger der DDR, die erst mit dem Beitritt Bürger der Bundesrepublik Deutschland geworden seien. Mit der in Art. 315 Abs. 1–4 EGStGB geschaffenen Übergangsregelung hätten die vertragschließenden Staaten ersichtlich eine mit dem Beitritt eintretende Verschlechterung der bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Rechtspositionen der Bürger der DDR verhindern wollen. Es habe hingegen kein Anlaß bestanden, Personen, die diese Rechtsposition schon vorher durch eine auf eigenverantwortlicher Willensentschließung beruhende Übersiedlung aufgegeben hätten, sich also freiwillig der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland unterworfen hätten, in diesen Schutz mit einzubeziehen. Die Nichtanwendung des in § 2 Abs. 3 StGB festgelegten Meistbegünstigungsgebots auf Personen, die vor dem Beitritt der DDR Bundesbürger geworden seien, stelle somit keine ungerechtfertigte Schlechterstellung dieses Personenkreises dar. Auch wenn das Strafrecht der DDR für die von dem Angeklagten begangene Tat die milderen Rechtsfolgen vorsehe, sei dementsprechend der Angeklagte gemäß Art. 315 Abs. 4 EGStGB i.V.m. § 7 Abs. 2 Nr. 1, 2. Alternative StGB auch für die in der DDR begangene Tat nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen.

       7. Gegenstand des Urteils des Bundesgerichtshofes vom 13.12.1993 (5 StR 76/93 = NJ 1994, 130 ff.) war die Frage einer Rechtsbeugung durch DDR-Richter. Auch Richter der ehemaligen DDR könnten in der Bundesrepublik Deutschland wegen Rechtsbeugung verfolgt werden, entschied das Gericht, da an die Stelle der Vorschrift des § 244 StGB-DDR mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages die Strafbestimmung des § 336 StGB getreten sei. Die Strafbarkeit des Richters setze demnach voraus, daß dieser sich nach § 244 StGB-DDR strafbar gemacht habe und daß sein Verhalten auch nach § 336 StGB strafbar sei. § 244 StGB-DDR verlangte, daß der Richter "gesetzwidrig zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten" entschieden habe. Prüfungsmaßstab für die Frage der Gesetzwidrigkeit, so das Gericht, sei das Recht der DDR. Dennoch komme eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 244 StGB-DDR dann nicht in Betracht, wenn das Verhalten von Richtern der DDR-Justiz mit Rücksicht auf die Art des tatbestandlich umschriebenen Unrechtes überhaupt nicht den Tatbestand des § 336 StGB erfüllen könnte. Während nämlich § 336 StGB die Rechtsbeugung von unabhängigen, nur dem Gesetz unterworfenen Richtern (Art. 97 GG) unter Strafe stelle, habe § 244 StGB-DDR nach dem vom Ministerium der Justiz und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR herausgegebenen Kommentar zum StGB-DDR, "der Gewährleistung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz ... sowie der Sicherung einer in allen Fragen gerechten und gesetzlichen Rechtsprechung" dienen sollen. In der DDR habe es keine Gewaltenteilung gegeben. Zu den Aufgaben der Rechtspflege gehörte nach Art. 90 der DDR-Verfassung die "Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Staats- und Gesellschaftordnung". Unter diesen Umständen entspreche es dem Staats- und Verfassungssystem der ehemaligen DDR, daß der Richter, obwohl er nach der DDR-Verfassung (Art. 96 Abs. 1) bei seiner Rechtsprechung unabhängig und nur an die Verfassung, die Gesetze und die anderen Rechtsvorschriften gebunden war, tatsächlich mannigfachen äußeren Einflüssen unterlegen gewesen sei. Schließlich sei das Maß der persönlichen Unabhängigkeit bei den Richtern der DDR gering gewesen. Trotz dieser tiefgreifenden Unterschiede seien die mit dem Rechtsbeugungstatbestand geschützten Rechtsgüter in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR jedoch nicht derartig ungleich gewesen, daß eine Anwendung des § 336 StGB gänzlich auszuscheiden hätte.

       Bei dieser Beurteilung habe der Senat sich jedoch nicht von den mit der Rechtsprechung verfolgten Staatszwecken leiten lassen, sondern davon, daß die Rechtsprechung unabhängig von diesem politischen Bezug auch dazu diente, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu regeln. Selbst wenn Gerichte de facto nicht unabhängig seien, so könnten sie doch Streitigkeiten entscheiden, befriedend und ahndend wirken, wenn nur in bezug auf den jeweiligen Konflikt Neutralität gegenüber den Beteiligten und das Bemühen, ihnen gerecht zu werden, vorausgesetzt werden könnten. Stehe hiernach das durch den Einigungsvertrag bestimmte Rechtsanwendungsrecht (Art. 315 Abs. 1 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages i.V.m. § 2 Abs. 1 und 3 StGB) der Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes nicht entgegen, so sei doch einschränkend folgendes zu berücksichtigen: Schon bei der Prüfung, ob sich ein Richter der DDR-Justiz der Rechtsbeugung schuldig gemacht habe, sei bei der Prüfung des objektiven Tatbestandes, im übrigen im Hinblick auf die innere Tatseite zu berücksichtigen, daß es um die Beurteilung von Handlungen gehe, die in einem anderen Rechtssystem vorgenommen wurden. Ferner sei der Tatbestand der Rechtsbeugung auf die Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich gewesen sei und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derartig schwerwiegend verletzt worden seien, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstelle. Orientierungsmaßstab habe die offensichtliche Verletzung von Menschenrechten zu sein, wie sie die DDR durch den Beitritt zum Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (abgedruckt in BGBl. 1973 II, 1533, für die DDR in Kraft getreten am 23.3.1976 – GBl. II, 108) anerkannt habe.

       8. In seinem Urteil vom 30.7.1993 (3 StR 347/92 = NJW 1993 3147 ff. = BGHSt 39, 260 ff. = NStZ 1993, 587 ff.) mußte sich der Bundesgerichtshof mit der Strafbarkeit von DDR-Geheimdienstmitarbeitern beschäftigen12. Für den Tatzeitraum, so der Bundesgerichtshof, vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland folge die grundsätzliche Anwendbarkeit der Landesverratsvorschriften schon aus § 9 StGB i.V.m. § 3 StGB, jedenfalls aber aus § 5 Nr. 4 StGB, ohne daß dem völkerrechtliche oder verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstünden. Die Zulässigkeit der Strafverfolgung sei von dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland unberührt geblieben. Die unveränderte Anwendbarkeit der Bestimmung über Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit ergebe sich aus Art. 315 Abs. 4 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertragsgesetzes vom 23.9.1990 (BGBl. II, 885 ff.) und aus den übrigen in innerstaatliches Recht übernommenen Regelungen des Einigungsvertrages vom 31.8.1990 mit seinen Anlagen13. Hier seien die §§ 93 ff. StGB und die entsprechenden Rechtsanwendungsvorschriften von der Geltung im Beitrittsgebiet gerade nicht ausgenommen worden. Allgemeine Regeln des Völkerrechtes und Verfassungsrechtes stünden nicht entgegen. Auch ein generelles Strafverfolgungsverbot lasse sich nicht aus grundsätzlichen Regelungen ableiten. Die rechtliche Ausgestaltung und der Vollzug des von der DDR frei ausgehandelten Beitrittes zur Bundesrepublik Deutschland hätten zur Folge gehabt, daß das Schutzgut der Staatsschutzvorschriften des StGB-DDR weggefallen sei, während die Bundesrepublik Deutschland, wenn auch erweitert um die sogenannten Neuen Bundesländer, als Schutzobjekt der §§ 93 ff. StGB fortbestehe und bei abstrakter Betrachtung auch möglichen fortwirkenden Gefahren ausgesetzt sei, die sich aufgrund der früheren Ausspähungstätigkeit der Hauptverwaltung für Aufklärung (HVA) aus der festgestellten Einbindung in das System der Nachrichtendienste des Warschauer Paktes ergeben hätten. Die DDR bestehe zwar nicht mehr, so daß von ihr keine neuen Gefährdungen für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgehen könnten. Davon werde jedoch die Geltung der Strafzwecke, die auch den Normen des Staatsschutzstrafrechtes zugrunde lägen, insbesondere die des gerechten Schuldausgleichs und der sogenannten positiven und negativen Generalprävention, grundsätzlich nicht berührt. Verfassungsrechtliche Bedenken folgten auch nicht aus dem sogenannten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Schließlich biete auch der von der Verteidigung des Angeklagten geltend gemachte Rechtsgedanke innerstaatlicher Rechtsnachfolge weder unter dem Aspekt etwaigen Überganges von Fürsorgepflichten zugunsten von HVA-Angehörigen noch unter dem Gesichtspunkt eines aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verbots widersprüchlichen Verhaltens eine tragfähige Grundlage für ein allgemein wirkendes Strafverfolgungsverbot. (Vgl. zu dieser Problematik den Beschluß des BVerfG vom 15.5.1995, sowie J.A. Frowein, R. Wolfrum, G. Schuster, Völkerrechtliche Fragen der Strafbarkeit von Spionen aus der ehemaligen DDR, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 121 [1995].)



      11 Vgl. hierzu P. Rädler, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1992, ZaöRV 54 (1994), 489 ff.

      12 Vgl. hierzu A. Zimmermann, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1991, ZaöRV 53 (1993), 364 ff.

      13 Vgl. hierzu BGBl. 1990 II, 889.