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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1994


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Hans-Konrad Ress


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

a) Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis

      67. Das VG Darmstadt befand mit Beschluß vom 5.1.1994 (2 G 11572/93 - InfAuslR 1994, 248), daß sich aus Art. 3 EMRK ein zwingendes Abschiebungshindernis ergebe, wenn ernsthafte Gründe für eine unmittelbare und konkrete Lebensgefährdung des Ausländers sprächen. Dies sei der Fall bei einer Abschiebung in ein umkämpftes Bürgerkriegsgebiet, wo nahezu jedermann jederzeit Opfer der Kampfhandlungen werden könne. Ein solches zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK sah das Gericht in Afghanistan derzeit als gegeben an.

      68. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschied hingegen, daß § 53 Abs. 4 AuslG für Bürgerkriegssituationen gar nicht einschlägig sei, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die dort in Bezug genommene EMRK Bürgerkriegssituationen erfasse (Urteil vom 28.10.1994 - 24 BA 94.33471, u. a. - InfAuslR 1995, 73). Nach Auffassung des VGH kann diese Bestimmung des Ausländergesetzes nicht die einzige Stelle sein, an der die Bestimmungen der EMRK in das deutsche Recht umgesetzt werden. Die EMRK könne allenfalls bestimmen, daß sie in die nationalen Rechte umgesetzt werden müsse, nicht aber, wie das im einzelnen geschehe. Das Verhältnis der Bestimmungen des Ausländergesetzes zueinander sei ausschließlich eine Frage des deutschen Ausländerrechts, und zwar jedenfalls so lange das Ergebnis nicht mit den Anforderungen der EMRK in Widerspruch gerate. Im Rahmen der insoweit notwendigen Abgrenzung kam der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zu dem Ergebnis, daß auch die Anwendungsfälle des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG Anwendungsfälle der EMRK seien und einen Teilbereich der EMRK ausschöpften. Für diesen Teilbereich sehe das Gesetz eine besondere Rechtsfolge vor, nämlich eine (bloße) Ermessensentscheidung, die sich von der Rechtsfolge - gebundene Entscheidung - der allgemeinen Vorschrift zur Übernahme der EMRK (§ 53 Abs. 4 AuslG) abhebe und dieser gegenüber daher im Verhältnis der Spezialität stehe. Die speziellere Vorschrift verdränge die allgemeinere, welche sich daher als ein Auffangtatbestand erweise, der nur zum Zuge komme, wenn keine vorrangige Spezialvorschrift eingreife. Gegen diese Auslegung lasse sich nicht einwenden, eine bloße Ermessensvorschrift genüge nicht zur Umsetzung der Konvention ins deutsche Recht. Abgesehen davon, daß die Unterscheidung zwischen gebundenen Entscheidungen und Ermessensentscheidungen mehr dem deutschen Recht als dem Rechtsdenken der EMRK angehöre, gewährleisteten die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts, daß auch und erst recht die Anforderungen der Konvention erfüllt würden.

      69. Mit der Frage, ob die Gefährdung des Existenzminimums ein Abschiebungshindernis darstellte, befaßte sich das Verwaltungsgericht Gießen in seinem Beschluß vom 26.7.1994 (4 G 33457/94.A - InfAuslR 1994, 383). Ausgangspunkt der Entscheidung war ein Antrag eines äthiopischen Staatsangehörigen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die im Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21.6.1994 enthaltene Abschiebungsandrohung. Das VG gab dem Antrag statt, da es der Auffassung war, daß hinsichtlich Äthiopiens ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 2 und 3 EMRK vorliege. Die Konvention biete insbesondere auch Schutz vor Ausweisung und Abschiebung von Personen, denen die konkrete Gefahr drohe, in einem der in Art. 3 EMRK garantierten oder in einem sonstigen fundamentalen Menschenrecht in besonders schwerer Weise verletzt zu werden. Zu den fundamentalen Menschenrechten in diesem Sinne zählten das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 EMRK) und das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK). Demgemäß hätten das Bundesverfassungsgericht60 und das Bundesverwaltungsgericht61 den Begriff des "ermöglichten Aufenthalts" in §§ 10 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG dahin ausgelegt, daß ein Ausländer nicht mit einer Abschiebungsandrohung überzogen werden dürfe, wenn eine Rückkehr in seine Heimat ihn einer vor der Wertordnung des Grundgesetzes, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde, nicht zu rechtfertigenden Gefahr aussetzt. Hierauf gestützt befand das VG, die aufgrund des vorangegangenen Bürgerkriegs immer noch bestehende desolate wirtschaftliche Lage und allgemeine Hungersnot in Äthiopien begründen zwar für sich noch kein Abschiebungshindernis, etwas anderes gelte nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte oder Merkmale eine menschenrechtswidrige Gefährdung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten ließen. Aufgrund der ihm vorliegenden Auskünfte sah das Gericht Anhaltspunkte für eine menschenrechtswidrige Gefährdung von Rückkehrern nach Äthiopien und gab dem Antrag statt.

      70. Das VG Ansbach gab mit Urteil vom 22.11.1994 (AN 12 K 94.36566 - InfAuslR 1995, 216) der Klage eines algerischen Deserteurs auf Feststellung, daß ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG bestehe, statt. Der Kläger müsse wegen des Nichterscheinens vor der Wehrbehörde bei Rückkehr nach Algerien mit Inhaftierung rechnen, und eine Verurteilung zu einer höheren Freiheitsstrafe sei ebenfalls nicht unwahrscheinlich. Nach den Auskünften des Deutschen Orientinstituts hätten inhaftierte Militärangehörige beim Verhör mit Schlägen zu rechnen. Derartige Schläge beim Verhör stellten eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar, deshalb sei ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK festzustellen.



      60 BVerfGE 67, 43.
      61 NVwZ 1988, 260.