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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1994


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Hans-Konrad Ress


X. Europäische Gemeinschaften

3. Freier Warenverkehr

      94. Der EuGH hat seine Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit mit Urteil vom 24.11.1993 (Rechtssache Keck und Mithouard - EuZW 1993, 770 = NJW 1994, 121) weiterentwickelt und die weite "Dassonville-Formel", wonach Maßnahmen gleicher Wirkung im Sinne von Art. 30 EG-Vertrag alle nationalen Regelungen sind, die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar tatsächlich oder potentiell zu behindern, maßgeblich eingeschränkt. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung hat er dem Anwendungsbereich von Art. 30 EG-Vertrag diejenigen nationalen Bestimmungen entzogen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, und sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.

      Mit den Auswirkungen dieser neuen Rechtsprechung zu Art. 30 EGV setzte sich das KG in einem Urteil vom 10.1.1994 (25 U 5355/93 - EuZW 1994, 541 = NJW-RR 1994, 1463) auseinander. Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Antrag eines anerkannten Gewerbeverbands, einem Autohaus im Wege der einstweiligen Verfügung die Werbung für Kraftfahrzeuge (u. a. hergestellt in Frankreich) mit tabellenartigen Finanzierungskonditionen zu untersagen, da der Verbraucher über die Finanzierungsendpreise getäuscht werde. Das KG sah in dem auf § 3 UWG (Verbot irreführender Werbung) gestützten Erlaß der begehrten einstweiligen Verfügung durch das erstinstanzliche LG Berlin keinen Verstoß gegen Art. 30 EGV. Die neue Rechtsprechung des EuGH (Keck) veranlaßte das KG jedoch nicht, bereits die Anwendbarkeit von Art. 30 EGV für den vorliegenden Fall zu verneinen. Es sei zweifelhaft, ob die Änderung der Rechtsprechung des EuGH so weitgehend sei, daß zukünftig nur noch solche Verkaufsmodalitäten als Handelshemmnisse erfaßt würden, durch die Produkte aus anderen Ländern der Gemeinschaft gegenüber Inlandserzeugnissen diskriminiert würden. So unterfielen nach dem Urteil des EuGH Vorschriften hinsichtlich der Bezeichnung, Form, Zusammensetzung usw. der Waren nach wie vor dem Begriff der Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen. Zudem habe der EuGH nicht näher ausgeführt, was unter "bestimmten Verkaufsmodalitäten" zu verstehen sei.

      Obwohl das KG mithin in den streitgegenständlichen Untersagungen Handelshemmnisse im Sinne von Art. 30 EGV erblickte, stellte es keinen Verstoß gegen Art. 30 EGV fest, da sich der EuGH noch nicht auf ein bestimmtes Verbraucherleitbild - etwa das des aufmerksamen, sorgfältigen und kritischen Verbrauchers - festgelegt habe. Die in Ermangelung eines gemeinschaftsrechtlichen, verbindlichen Leitbilds zur Beurteilung wettbewerbsrechtlicher Täuschungsfälle bestehenden immanenten Schranken des Art. 30 EGV ("Cassis de Dijon") würden durch § 3 UWG gewahrt, da diese Regelung erforderlich und geeignet sei, um zwingenden Erfordernissen der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes gerecht zu werden.

      95. Ebenfalls unter Bezugnahme auf die neue Rechtsprechung des EuGH zu Art. 30 (Rechtssache Keck, s.o.) entschied das OLG Nürnberg mit Urteil vom 18.8.1994 (3 U 2098/94 - EWS 1995, 53), daß die Anwendung des Rabattgesetzes nicht gegen die Grundsätze des freien Warenverkehrs verstoße, da es sich hierbei nicht um einen Fall der produktbezogenen Beschränkung, sondern um einen Fall einer nur marketing-bezogenen Beschränkung handele, die nach den neuen Grundsätzen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 30 EGV falle. Das Rabattgesetz regele nämlich allein Verkaufsmodalitäten, die für alle Wirtschaftsteilnehmer gälten und den Absatz in- und ausländischer Produkte in gleicher Weise berührten.

      96. Im Anschluß an das Urteil des EuGH in der Rechtssache Hünermund90 entschieden der VGH Baden-Württemberg (nicht rechtskräftiger Beschluß vom 18.4.1994 - 9 S 3114/93 - DÖV 1994, 831 = VBlBW 1994, 361 = DVBl. 1995, 65 [Ls.]) und das Bundesverwaltungsgericht (Beschluß vom 23.12.1994 - NB 1.93 - GewArch 1995, 194), daß Standesregeln einer Apothekerkammer, die die Werbung außerhalb der Apotheke verbieten, nicht geeignet seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 30 EGV zu behindern. Derartige nationale Bestimmungen stellten ein Verbot von bestimmten Verkaufsmodalitäten dar, die nach der neuen Rechtsprechung des EuGH nicht mehr unter den Einbindungsbereich des Art. 30 EGV fielen.



      90 Urteil des EuGH vom 15.12.1993, Rs. C 292/92, EuZW 1994, 119.