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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1995


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Volker Röben


XII. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

b) Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis

       63. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Urteil vom 17.10.1995 (9 C 56.95 - BVerwGE 99, 331=InfAuslR 1996, 254) grundlegend zur Dogmatik des Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis Stellung zu nehmen. Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, beantragte im Jahre 1991 politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag ab und stellte zugleich fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen würden, auch keine Abschiebungshindernisse i.S.v. § 53 AuslG gegeben seien. Die auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen beschränkte Revision blieb ohne Erfolg. Nach § 53 Abs. 4 AuslG dürfe ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergebe, daß die Abschiebung unzulässig sei. § 53 Abs. 4 AuslG enthalte keine eigenständige Regelung der Abschiebungshindernisse, sondern nehme nur auf die EMRK und die sich aus ihr ergebenden Abschiebungshindernisse Bezug. § 53 Abs. 4 AuslG habe also nur deklaratorische Bedeutung und stelle klar, daß das neue Ausländerrecht nicht als späteres Gesetz die sich aus der EMRK ergebenden Abschiebungshindernisse verdränge. Zu Unrecht - nämlich aufgrund der fehlerhaften Annahme, § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG schließe als Spezialgesetz die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 4 AuslG aus - habe sich das Berufungsgericht an der Prüfung eines hiernach in Frage kommenden Abschiebungshindernisses, insbesondere des Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlichen Behandlung unterworfen werden dürfe, gehindert gesehen. Der Gesetzgeber sei mit der Verweisung in § 53 Abs. 4 AuslG auf Art. 3 EMRK ersichtlich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR davon ausgegangen, daß sich hieraus Schutz vor Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung ergeben könne, daß die Vertragsstaaten also nach Art. 3 EMRK auch für Folgen verantwortlich seien, die eine Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung für den Betroffenen außerhalb ihrer Herrschaftsgewalt haben könnte.1 Die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten bestehe jedoch grundsätzlich nur für die Folgen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Art. 3 EMRK schütze ebenso wie das Asylrecht nicht vor den allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen, Bürgerkriegen und anderen bewaffneten Konflikten. Denn der Begriff der Behandlung setze ein geplantes, vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus. Die Verantwortlichkeit des Vertragsstaates gründe sich darauf, daß er durch die Abschiebung den Betroffenen in seinem Heimatstaat oder in einem Drittstaat einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK aussetze. Diese Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 3 EMRK ergebe sich aus Sinn und Zweck der EMRK. Die Konvention bezwecke vornehmlich die Sicherung bestimmter Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereiches der Vertragsstaaten. Weder die Konvention noch die später vereinbarten Protokolle enthielten demgegenüber ein Recht auf Asyl. Soweit gleichwohl im Rahmen des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch die im Heimatstaat oder im Drittland eintretenden Folgen von Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung durch einen Vertragsstaat zu berücksichtigen seien, könne sich dies nur auf Handlungen erstrecken, die auch im Vertragsstaat als unmenschliche Behandlung anzusehen wären. Ferner könne grundsätzlich nur die von einem Staat ausgehende oder von ihm zu verantwortende Mißhandlung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK sein. Das folge aus dem Zweck der EMRK, dem Mißbrauch staatlicher Macht vorzubeugen. Dem Staat könnten auch solche staatsähnlichen Organisationen gleichstehen, die den jeweiligen Staat verdrängt hätten, selbst staatliche Funktionen ausübten und auf ihrem Gebiet die effektive Staatsgewalt innehätten. Bei Anlegung dieser Maßstäbe habe der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit einer unmenschlichen Behandlung zu rechnen.

       64. Mit der dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 23.3.1995 (2 BvR 492/95 und 2 BvR 493/95 - BVerfGE 92, 245) zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksangehörigkeit, gegen seine Ausweisung nach Ablehnung seines Asylantrags. Er trug vor, die Bundesrepublik würde mit seiner Ausweisung gegen Art. 3 EMRK verstoßen, da er in der Türkei als der Mitgliedschaft in der PKK verdächtig der Folter ausgesetzt wäre. Die Kammer führte zur Begründung ihrer ablehnenden Entscheidung aus, der Beschwerdeführer habe den Rechtsweg nicht erschöpft. Insbesondere habe er keine Beschwerde gegen die die begehrte einstweilige Anordnung ablehnende Entscheidung eingelegt. Der VGH hätte im Beschwerdeverfahren die Rechtslage, einschließlich der rechtlichen Bedeutung des Briefwechsels zwischen dem Bundesinnenminister und seinem türkischen Amtskollegen klären können.

       65. In dem mit Urteil des Schleswig-Holsteinischen OVG vom 3.5.1995 (2 L 50/95 - InfAuslR 1995, 302) abgeschlossenen Verfahren berief sich der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, wiederum auf Art. 3 EMRK gegen die Ausweisung nach Ablehnung seines Asylantrages. Auf die Berufung des beklagten Landes hob das OVG die der Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses wegen des in Afghanistan herrschenden Bürgerkrieges stattgebende Entscheidung des VG auf und wies die Klage ab. Die Entscheidung des VG gründe auf einem unrichtigen Verständnis des § 53 Abs. 4 AuslG und Art. 3 EMRK. Zwar sei das Gericht zutreffend davon ausgegangen, daß Art. 3 EMRK die Bundesrepublik als Vertragsstaat binde, so daß es unerheblich sei, ob der aufnehmende Staat seinerseits an die EMRK gebunden sei. Die unmenschliche Behandlung liege darin, den einzelnen einer Situation auszusetzen, in der seine Rechte verletzt würden. Jedoch sei entgegen dem VG erforderlich, daß dem Auszuweisenden bei seiner Rückkehr eine konkrete individualisierte Gefahr drohe, einer nach Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine allgemein kritische Menschenrechtssituation reiche nicht aus. Hier bestünden keine Anhaltspunkte, daß der Kläger eine derartige individualisierte Verfolgung zu gewärtigen habe.2

       66. Das Urteil des Hessischen VGH vom 16.6.1995 (10 UE 1282/95 - NVwZ Beilage 6, 14-15) betraf einen indischen Asylbewerber. Der VGH verneinte das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 I, IV, Abs. 6 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Der Fall des Herrn Kuldeep Singh, eines Asylbewerbers aus Indien, der im Mai 1994 nach Indien ausgewiesen, bei seiner Ankunft in Neu Delhi in Polizeigewahrsam genommen und schließlich zu Tode gefoltert wurde, sei ein Einzelfall ohne allgemeine Bedeutung. Er weise nicht auf eine allgemeine in Indien herrschende Situation hin, in der sich jede Person, die zur Religionsgruppe der Sikh gehöre und in Deutschland um Asyl nachgesucht habe, befinde.



      1 Das Bundesverwaltungsgericht zitiert hier das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 7.7.1989, EuGRZ 1989, 314, Rn. 86-91, Soering; sowie das Urteil vom 30.10.1991, NVwZ 1992, 869, Rn. 103, Vilvaraja.

      2 S. auch VG Wiesbaden, Urteil vom 26.10.1995 (9/1 F. 7990/93 - InfAuslR 1996, 37).