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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1996


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Kerrin Schillhorn


VI. Fremdenrecht

2. Ausweisung und Abschiebung

      30. Im Jahre 1996 hatte sich die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit in einer Reihe von Fällen mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten einen Abschiebungsschutz genießen, wenn der Krieg erhebliche Gefährdungen für Leib und Leben der Betroffenen bedeutet. Da die Begründungen der Gerichte weitgehend übereinstimmen, wird hier stellvertretend die Entscheidung des BVerwG vom 19.11.1996 (1 C 6/95 = JZ 1997, 508ff. = InfAuslR 1997, 193ff. = NVwZ 1997, 685ff.) besprochen; verwiesen wird jedoch auch auf die Entscheidungen des BVerwG vom 18.4.1996 (9 C 77/95 = NVwZ-Beilage 8/1996, 58ff.) und vom 4.6.1996 (9 C 134/95 = InfAuslR 1996, 289ff.), sowie die Entscheidungen des VGH Baden-Württemberg vom 13.2.1986 (Urteil A 13 S 3702/94 = ESVGH 46 [1996], 139ff.)39, vom 5.6.1996 (Urteil A 13 S 828/96 = ESVGH 46 [1996], 319) und vom 29.2.1996 (Beschluß 1 S 1787/95 = BWVP 1996, 183), den Beschluß des VG Hamburg vom 21.5.1996 (9 VG 1933/96 = InfAuslR 1996, 286ff.), das Urteil des Schleswig-Holsteinischen VG vom 26.2.1996 (14 A 710/94 = InfAuslR 1996, 283ff.), den Beschluß des VG Freiburg vom 26.11.1996 (10 K 2396/96 = NVwZ-Beilage 4/1997, 30ff.) und den Gerichtsbescheid des VG Sigmaringen vom 25.4.1996 (A 3 K 11659/95 = InfAuslR 1996, 290ff.).

      Das BVerwG entschied in seinem Urteil vom 19.11.1996, daß Bürgerkriegsgefahren dann ein Abschiebungshindernis darstellen können, "wenn der Krieg gewissermaßen für jeden Betroffenen mit so erheblichen Gefährdungen verbunden ist, daß auch dem einzelnen Ausländer eine Abschiebung in dieses Land nicht zugemutet werden kann".40 Gegenstand des Verfahrens war das Begehren eines angolanischen Staatsangehörigen, nicht ausgewiesen zu werden, da ihm durch den in seinem Heimatland herrschenden Bürgerkrieg große Gefahren drohten. Das Gericht führte aus, die vom Kläger geltend gemachte allgemeine Gefährdung aufgrund des Bürgerkrieges in Angola stelle kein Abschiebungshindernis, namentlich keine unmenschliche Behandlung dar. Der Begriff der unmenschlichen Behandlung setze ein geplantes, vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus. Dies treffe bei allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen, Bürgerkriegen oder anderen bewaffneten Konflikten nicht zu, so daß diese Gefahren nicht in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK fielen. Weiterhin stellte das BVerwG fest, daß es zum maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung keine Anordnung der obersten Landesbehörde gegeben habe, die Abschiebung nach Angola gemäß § 54 AuslG auszusetzen. Deshalb habe der Beklagte bei der Ermessensentscheidung prüfen müssen, ob für den Kläger in Angola eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Vermögen oder Freiheit bestehe und welches Gewicht ggf. einer solchen Gefahr im Rahmen der Ermessensentscheidung beigemessen werden solle. Erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben, die den Ausländer in seiner Heimat bedrohten, seien erst dann zu berücksichtigen, wenn es sich um Gefahren handele, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehöre, in dem Staat allgemein ausgesetzt sei. Ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bestehe dann, wenn angesichts dieser Gefahren eine Abschiebung des betreffenden Ausländers unter Würdigung des in seinem Fall verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes nicht verantwortet werden könne. Bei einem Bürgerkrieg gelte dies dann, wenn aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen eine derart extreme Gefahrenlage bestehe, daß praktisch jedem, der in diesen Staat abgeschoben werde, Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit in erhöhtem Maße drohten und eine Abschiebung dorthin als unzumutbar erscheinen ließen. Eine extreme allgemeine Gefahrenlage in diesem Sinne sei etwa dann anzunehmen, wenn der Bürgerkrieg ein solches Ausmaß erreicht habe, daß der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Der rechtliche Maßstab für die Erheblichkeit der Gefährdung bzw. der Unzumutbarkeit der Abschiebung ergebe sich aus dem verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG. Das Leben und die körperliche Unversehrtheit des einzelnen müßten so erheblich, konkret und unmittelbar gefährdet sein, daß eine Abschiebung nur unter Verletzung dieser Verfassungsgebote erfolgen könne. Bei dieser Entscheidung komme der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit ein besonderes Gewicht zu. Im Einzelfall dürfe es dem Ausländer nicht zuzumuten sein, in den betreffenden Staat abgeschoben zu werden. Maßgeblich sei insoweit eine objektive Beurteilung41.

      Ein umfassenderer Schutz wurde in den Entscheidungen des VG Freiburg vom 26.11.1996 und des VG Hamburg vom 21.5.1996 gewährt, in denen die Gefahren, die dem Ausländer in der Heimat drohen, nicht nur auf kriegerische Auseinandersetzungen eines Bürgerkrieges beschränkt wurden, sondern darüber hinaus eine Schutzwürdigkeit auch dann angenommen wurde, wenn die allgemeine Versorgungslage bzw. die Rückführungen der Flüchtlinge im Rahmen des Rückkehrflüchtlingsprogrammes des UNHCR in Bosnien-Herzegowina nicht garantiert seien. Beide Entscheidungen beschäftigten sich mit Fällen der Abschiebung nach Bosnien und kamen zu dem Ergebnis, daß eine solche zur Zeit nicht erfolgen könne, da im Falle einer Abschiebung der einzelne Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Zur Begründung führten beide Gerichte an, es herrschten nach wie vor bewaffnete Auseinandersetzungen, und das Rückführprogramm im Rahmen des UNHCR könne eine sichere Rückführung der Flüchtlinge nicht garantieren. Das VG Freiburg bezog sich darüber hinaus auch auf die katastrophale Versorgungslage in Bosnien-Herzegowina hinsichtlich der medizinischen Versorgung sowie der Versorgung mit Lebensmitteln und Wohnraum. Eine andere Begründung fand sich im Gerichtsbescheid des VG Sigmaringen vom 25.4.1996. Nach dieser Entscheidung wurde der Schutz vor Bürgerkriegsgefahren direkt aus Art. 3 EMRK abgeleitet, sofern dessen Schutzbereich betroffen sei. Darüber hinaus wurde nicht darauf Bezug genommen, daß ein Schutz vor erheblichen Bürgerkriegsgefahren auch verfassungsrechtlich geboten sein könne.

      31. Der VGH Baden-Württemberg hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die Abschiebung eines Ausländers betroffen sein kann (Urteil vom 15.5.1996 - A 13 S 1431/94 = VBlBW 1996, 390ff. = FamRZ 1996, 1295ff. = InfAuslR 1996, 264ff. = NVwZ-Beilage 3/1997, 18ff. = DVBl. 1996, 1267ff.). Das Gericht führte aus, daß § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. EMRK-Bestimmungen auch solche Abschiebungshindernisse erfasse, die sich nicht nur aus der Situation des Ausländers im Heimatstaat nach der Abschiebung, sondern auch aus der durch die Abschiebung entstehenden Situation im Bundesgebiet ergäben. So könne unter bestimmten Voraussetzungen aus der Anwendung des Art. 8 EMRK, der den Schutz des Familienlebens bezwecke, ein Abschiebungsverbot abgeleitet werden.42 Ein solches Abschiebungshindernis knüpfe nicht an die im Heimatland zu erwartenden Gefahren an, sondern an eine schon unmittelbar vor der Abschiebung bewirkte Gefährdung des geschützten Rechtsgutes. Das Gericht wies darauf hin, daß sich die Aufklärungspflicht des Bundesamtes nach §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht nur auf Tatsachen und Umstände erstrecke, die einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstünden (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse), sondern auch auf solche, die der Abschiebung aus sonstigen Gründen generell entgegenstünden. In dem zu entscheidenden Fall kam das Gericht zu dem Ergebnis, daß die Abschiebung des Klägers, eines im Asylverfahren erfolglos gebliebenen Ausländers, der mit seiner asylberechtigten pflegebedürftigen Mutter in einer familiären Beistandsgemeinschaft lebte, unzulässig ist. Zur Begründung führte das Gericht aus, das Verhältnis des Klägers zu seiner Mutter falle unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Insbesondere sei der Familienbegriff dieser Bestimmung nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt, sondern betreffe auch das Familienleben zwischen nahen Verwandten und reiche insoweit über den durch Art. 6 GG geschützten Personenkreis hinaus43. Jedoch verlange, so das Gericht, Art. 8 Abs. 1 EMRK ein "wirkliches Familienleben", welches ein hinreichend enges Familienband voraussetze. Dies sei hinsichtlich des Klägers, der mit seiner pflegebedürftigen Mutter in einer familiären Beistandsgemeinschaft zusammenlebe, erfüllt. In dieses Schutzgut dürfe nur aufgrund dringender sozialer Bedürfnisse eingegriffen werden, wobei die Verhältnismäßigkeit in bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel geprüft werden müsse. Zwar sei es aus einwanderungspolitischen Gründen im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich unbedenklich, ein Aufenthaltsrecht zu versagen, wenn keine Lebensverhältnisse bestünden, die einen über die Aufrechterhaltung der Begegnungsgemeinschaft hinausgehenden familiären rechtlichen Schutz angezeigt erscheinen ließen. Eine weitergehende Schutzwirkung könne sich jedoch dann ergeben, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitgliedes angewiesen sei, und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lasse. Diese für das Aufenthaltsrecht entwickelten Maßstäbe seien gleichermaßen für die Abschiebung zu beachten. Denn auch Vollstreckungsmaßnahmen könnten in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifen, wenn dem Ausländer ohne Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung der Aufenthalt im Bundesgebiet und die Begründung einer familiären Lebensgemeinschaft mit nahen Angehörigen tatsächlich ermöglicht worden seien44.

      32. Über die Auswirkung des Rücknahmeabkommens45 auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen hatte der VGH Baden-Württemberg in einem Urteil vom 4.12.1996 (13 S 1194/95, NVwZ-Beilage 5/1997, 37ff.) zu entscheiden. Gegenstand des Verfahrens war ein Antrag des Klägers aus dem Kosovo, eine ihm erteilte Duldung zu verlängern. Das Gericht stellte fest, ein Duldungsgrund bestehe nach Abschluß und Inkrafttreten des Rücknahmeabkommens nicht mehr. Insbesondere enthalte das Abkommen Regelungen über die Rücknahmepflicht, das Verfahren zur Feststellung der Identität, Staatsangehörigkeit und Rückkehr der Personen, das Verfahren nach einem Rücknahmeersuchen sowie das Rückführungs- und Übernahmeverfahren. Diese Regelungen müßten nunmehr bei der Rückführung eines jugoslawischen Staatsangehörigen befolgt werden. Dies gelte auch für den Kläger. Es sei nicht ersichtlich, daß ein Rücknahmeersuchen bzgl. des Klägers von vornherein als aussichtslos angesehen werden müsse. Auch liege kein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG vor. Der Kläger selbst berufe sich weder auf persönliche Umstände, aus denen sich für ihn die individuell konkrete Gefahr ergebe, in seinem Heimatstaat der Folter unterworfen zu werden, noch habe er behauptet, er werde in der Bundesrepublik Jugoslawien wegen einer Straftat gesucht und es bestehe insoweit die Gefahr der Todesstrafe. Auch lägen keine Hinweise darauf vor, daß der Schutzbereich des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung in die Republik Jugoslawien verletzt sein könne. Vgl. hierzu im einzelnen die Ausführungen des BVerwG im Urteil vom 19.11.1996 [30].

      33. In einem Urteil vom 11.6.1996 (1 C 24/94 = BVerwGE 101, 247ff. = NVwZ 1997, 297ff.) hatte das BVerwG über den Umfang des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG, insbesondere über den Umfang der spezial- und generalpräventiven Ausweisungsgründe, zu entscheiden. Gegenstand des Verfahrens war der Fall eines türkischen Staatsangehörigen mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, der Beihilfe zur Einfuhr und zum Verkauf von 900 g Heroin geleistet hatte und dafür zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Das BVerwG bestätigte die verfügte Ausweisung sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen. Zur Begründung führte das Gericht aus, daß der nach § 48 Abs. 1 AuslG besonderen Ausweisungsschutz genießende Personenkreis nur aus einem schwerwiegenden Grund, basierend auf spezialpräventiven Gründen, ausgewiesen werden könne. Dazu müsse dem Ausweisungsanlaß ein besonderes Gewicht zukommen, welches sich bei Straftaten aus der Art, Schwere und Häufigkeit ergebe. Zum anderen müßten Anhaltspunkte dafür bestehen, daß in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohten, und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgehe. Jedoch dürfe im Falle eines erhöhten Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG die Ausweisung auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Dabei wirke sich der erhöhte Ausweisungsschutz gemäß § 48 AuslG insoweit aus, daß der Ausweisungsgrund schwerwiegend sein müsse und in diesem Zusammenhang dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zukomme46. Weiter führte das Gericht aus, Rauschgiftdelikte gehörten zu den gefährlichen und schwer zu bekämpfenden Straftaten. Deswegen könne die Ausweisung von Ausländern, die einen besonderen Ausweisungsschutz genössen, auch dann aus generalpräventiven Erwägungen gerechtfertigt sein, wenn Verurteilungen zu Freiheitsstrafen nicht in der in § 47 Abs. 1 AuslG genannten Höhe ergangen seien47. Das Gericht stellte weiterhin fest, daß im Falle eines erhöhten Ausweisungsschutzes bei der Entscheidung über die Ausweisung die Gründe zu berücksichtigen sind, deretwegen dem Betroffenen eine privilegierte Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Hier seien insbesondere die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik, der Integrationsgrad des Betroffenen, sowie seine familiären Bindungen in die Erwägungen mit einzubeziehen48. Im Anschluß prüfte das Gericht, ob die Ausweisung gegen Art. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens verstößt. Danach sei, so das Gericht, eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen nur ausnahmsweise möglich. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur Ausweisung von Ausländern, die mit Deutschen verheiratet sind, kam das Gericht zu dem Ergebnis, zwischen "schwerwiegenden Gründen" des nationalen Rechts und den "besonders schwerwiegenden Gründen" des Art. 3 ENA sei kein qualitativer Unterschied anzunehmen, wenn nach nationalem Recht der Ausweisungsschutz auch der am höchsten privilegierten Ausländer "aus schwerwiegenden Gründen" entfallen solle49. Schließlich stellte das Gericht fest, daß die Frage, ob der Ausweisung ein Aufenthaltsrecht des Klägers aufgrund des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 entgegensteht, nicht ohne vorherige Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 177 EGV entschieden werden könne und verwies die Sache an den VGH zurück.50

      34. In seinem Urteil vom 6.11.1996 (AN 15 K 32747/96 = InfAuslR 1997, 43ff.) nahm das VG Ansbach das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses i.S.d. § 53 AuslG für einen Deserteur aus der ehemaligen Sowjetarmee an, dem bei Rückkehr in die Russische Föderation nach militärstrafrechtlichen Regeln der Vollzug der Untersuchungshaft und der Strafhaft drohte. Das Gericht lehnte den Asylantrag des Betroffenen ab, stellte jedoch fest, daß diesem die Gefahr unmenschlicher Behandlung i.S.d. § 53 AuslG sowie Art. 3 EMRK drohe. Zur Begründung führte das Gericht aus, in russischen Gefängnissen, insbesondere im Bereich der Untersuchungshaft, herrschten alarmierende Zustände, die Anstalten seien überbelegt, die Ernährung sei schlecht und die medizinische Versorgung unzureichend. Weiterhin lasse das russische Strafvollzugssystem mangels wirksamer Kontrolle regelmäßige und grobe Menschenrechtsverletzungen zu. Unter Verweis auf Lageberichte des Auswärtigen Amtes, die Auffassung der russischen Präsidialkommission für Menschenrechte, Berichte von Amnesty International und einen Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen nahm das Gericht an, daß Willkür, Gewalt und Mißhandlung von Gefangenen die Haftanstalten in gefährliche Orte für Leben und Gesundheit der Gefangenen verwandelten. Der Kläger müsse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß bei seiner Rückkehr ein Militärstrafverfahren gegen ihn durchgeführt werde und er dabei in der Untersuchungshaft unmenschlich behandelt werde. Als Deserteur sei er besonderen Gefahren ausgesetzt, weshalb zu seinen Gunsten ein Abschiebungshindernis i.S.d. § 53 AuslG anzunehmen sei.

      35. Zum gleichen Ergebnis kam das BVerwG in seinem Urteil vom 17.12.1996 (9 C 20/96 = InfAuslR 1997, 284ff.) im Hinblick auf Abschiebungen nach Rußland und in die Ukraine. Einer der Antragsteller hatte sich dem Wehrdienst in Rußland entzogen, während die andere Antragstellerin diesem bei der Wehrdienstentziehung geholfen und sich in St. Petersburg für "Soldatenmütter" engagiert hatte, bevor beide in der Bundesrepublik Deutschland vergeblich um Asyl nachsuchten. Das BVerwG nahm eine Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK in einem drohenden Strafverfahren und -vollzug in Rußland an und führte aus, daß die Anwendung dieses Abschiebungshindernisses nach Art. 53 Abs. 4 AuslG nicht dadurch ausgeschlossen sei, daß diese Gefahr nicht nur den einzelnen Ausländern, sondern der ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe drohe. Auch enthalte Art. 53 Abs. 4 AuslG keine dem Art. 53 Abs. 6 AuslG entsprechende Einschränkung hinsichtlich des Vorbehalts einer generellen Regelung durch die oberste Landesbehörde nach § 54 AuslG.



      39 Diese Entscheidung war zur Zeit der Veröffentlichung noch nicht rechtskräftig.

      40 Vgl. zu entsprechenden Vorjahresentscheidungen Röben (Anm. 1), [63].

      41 Vgl. auch die Anmerkung von Rittstieg, JZ 1997, 511f.

      42 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 15.10.1996 (A 16 S 1/96 = VBlBW 1997, 273ff.), in dem die Abschiebung eines minderjährigen Kindes dann i.S.d. Art. 8 Abs. 2 EMRK als unverhältnismäßig angesehen wurde, wenn einem Elternteil ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland zusteht.

      43 Vgl. zum Umfang des Schutzes aus Art. 6 Abs. 1 GG auch den Beschluß des BVerwG vom 2.5.1996 - 1 B 1994/95 = InfAuslR 1996, 303. In dieser Entscheidung führte das BVerwG aus, daß Art. 6 Abs. 1 GG den ausländischen Ehepartner eines deutschen Staatsangehörigen nicht schlechthin vor Ausweisung schütze und auch nicht generell eine Befristung der Ausweisung gebiete. Wenn jedoch von dem aus Anlaß strafrechtlicher Verurteilung ausgewiesenen Ausländer eine konkrete und entsprechend schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgut nicht mehr ausgehe, so könne die Abwägung zwischen diesen Gefahren und dem Schutz der Familie dazu führen, daß der Bestand von Ehe und Familie im Einzelfall überwiegt. Zur Anwendung des Schutzes aus Art. 6 GG vgl. auch Urteil des BVerwG vom 27.8.1996 - 1 C 8/94 = DVBl. 1997, 186ff., und Beschluß des OVG Greifswald vom 20.9.1996 - 2 M 11/96 = NVwZ-RR 1997, 256.

      44 Vgl. i.d.S. auch den Beschluß des BVerfG vom 1.8.1996 - 2 BvR 1119/96 = NVwZ 1997, 479f. Zu weiteren Entscheidungen bzgl. der Beachtung des Schutzes der Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, vgl. auch die Entscheidungen VGH München, Urteil vom 29.7.1996 - 24 BA 95/36844 = NVwZ-Beilage 3, 1997, 17ff., VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 11.10.1996 - 13 F 1614/96 = InfAuslR 1997, 74ff. = DVBl. 1997, 193, BayVGH, Beschluß vom 13.12.1996 - M 21 E 96/60532 = InfAuslR 1997, 130ff., VGH Kassel, Beschluß vom 23.9.1996 - 13 TG 1316/96 = NVwZ-RR 1997, 126f. = FamRZ 1997, 748ff., VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.10.1996 - A 16 F 1/96 = InfAuslR 1997, 124, VGH Kassel, Beschluß vom 14.3.1996 - 12 TG 360/96 = FamRZ 1996, 1284.

      45 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien über die Rückführung und Rückübernahme von ausreisepflichtigen deutschen und jugoslawischen Staatsangehörigen, vgl. Anm. 2.

      46 Vgl. zu den Voraussetzungen der generalpräventiv motivierten Ausweisung im Falle eines erhöhten Ausweisungsschutzes gem. § 48 Abs. 1 AuslG auch Beschluß des VGH Baden-Württemberg vom 12.11.1996 (11 F 2601/96 = InfAuslR 1997, 108) und Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 12.4.1996 (13 F 1027/95 = VBlBW 1996, 186ff.).

      47 Vgl. hierzu aber auch den Beschluß des niedersächsischen OVG vom 22.3.1996 (2 M 1531/96 = InfAuslR 1996, 203ff.), wonach die gesetzliche Gewichtung der Rauschgiftkriminalität von Ausländern als strikter Regelausweisungsgrund zwar wegen seiner generalpräventiven Wirkung im allgemeinen Interesse liege, eine Ausnahme dann jedoch im persönlichen Interesse des Ausländers zulässig sei, wenn durch den Vollzug der Abschiebung eine Lebensphase von für ihn existentieller Wichtigkeit einschneidend und irreversibel unterbrochen werde.

      48 Zu den Anforderungen an behördliche Ermessenserwägungen bei Ausweisungsverfügungen vgl. auch das Urteil des BVerwG vom 24.9.1996 (1 C 9/94 = DVBl. 1997, 189ff. = InfAuslR 1997, 63ff.).

      49 Vgl. zu den Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung eines nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannten Flüchtlings rechtmäßig sein kann, Beschluß des VGH Baden-Württemberg vom 28.3.1996 (1 S 1404/95 = InfAuslR 1996, 328ff.).

      50 Vgl. zu weiteren Fragen der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen auch den Beschluß des VGH Baden-Württemberg vom 17.10.1996 (13 S 1279/95 = InfAuslR 1997, 111ff.) zu dem Verbrauch eines Ausweisungsgrundes durch die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Kenntnis des Ausweisungsgrundes; weiterhin zu der Auswirkung des Widerrufs einer Berufung im Zusammenhang mit § 47 Abs. 1 Nr. 3 AuslG, Beschluß des VG München vom 5.7.1996 (M 8 S 1913/96 = InfAuslR 1996, 314ff.) und Beschluß des BayVGH vom 17.9.1996 (10 CS 2439/96 = InfAuslR 1997, 29ff.). Während das erstinstanzliche Gericht den Widerruf der Bewährung als Verurteilung zu einer Strafe ohne Aussetzung zur Bewährung wertete, kam der VGH zum gegenteiligen Ergebnis und führte zur Begründung an, die vom Gesetzgeber bei der Regelausweisung nach § 47 AuslG unterstellte Wiederholungsgefahr sei mit der Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe widerlegt, dabei sei ein späterer Widerruf der Bewährung unbeachtlich, da insoweit auf ein Verhalten des betroffenen Ausländers zu einem späteren Zeitpunkt abgestellt werde.