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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

a) Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis

       68. Das VG Karlsruhe urteilte am 29.4.1998 (A10 K 1446/94 - InfAuslR 1998, 374), daß an Art. 3 EMRK nicht dieselben strengen Maßstäbe für die "Staatlichkeit" der befürchteten Behandlung anzulegen sei, wie sie das BVerwG zu Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelt habe. Für eine verantwortliche Prognoseentscheidung darüber, ob eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung im Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe, genüge es vielmehr, wenn in Abwesenheit einer staatlichen Gebietsgewalt dauerhaft ein überlegener Machtapparat vorhanden sei, dem der Ausländer ausgesetzt werde. Eine afghanische Familie beantragte 1994 ihre Anerkennung als Asylberechtigte, die das Bundesamt mit der Begründung ablehnte, daß die Voraussetzungen der §§ 51 und 53 AuslG nicht gegeben seien. Es erging eine Abschiebungsandrohung nach Afghanistan, wogegen die Familie Klage erhob. Das VG führte aus, daß es der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht folgen könne, sondern sich an der Rechtsprechung des EGMR orientiere,80 wonach die Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung nicht von der Staatsgewalt des Aufnahmelandes ausgehen müsse. Der Rechtsprechung des EGMR sei größeres Gewicht beizumessen, da die Auslegung der EMRK in ihrem Art. 45 ausdrücklich dem EGMR überantwortet worden sei und Art. 53 EMRK die Verpflichtung verfahrensbeteiligter Vertragsstaaten vorsehe, sich nach den Entscheidungen des Gerichtshofs zu richten. Diese Bindungswirkung erstrecke sich auch auf nachfolgende Parallelfälle zu EGMR-Entscheidungen.81 Aufgrund der elementaren Bedeutung von Art. 3 EMRK habe der EGMR entschieden, daß die Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Gefahr sich auch aus den Umständen, etwa eines Bürgerkrieges, ergeben und selbst von Privatpersonen ausgehen könne.82 Das Argument des BVerwG, die Auslegung des EGMR schränke die ausländerpolitische Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten nahezu vollständig ein, könne nicht gelten, wenn dem Handeln nichtstaatlicher gefestigter Kräfte von staatlicher Seite nicht Einhalt geboten werde. Dem deutschen Gesetzgeber sei bei der Neufassung des AuslG auch die Auffassung der EKMR bekannt gewesen, die seit langem eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK auch dann annehme, wenn sie nicht von staatlichen Behörden ausgehe.83 Außer bei rein privaten Gefahren sei es daher nicht angebracht, die Stabilität eines durchsetzungsfähigen Machtapparates bei der Auslegung von Art. 3 EMRK den strengen Maßstäben zu unterwerfen, die das BVerwG für Art. 16a GG und § 51 AuslG fordere. Die gegenwärtigen Umstände in Afghanistan müßten danach zur Aufhebung des Ablehnungsbescheides führen.

      



      80 EGMR, Urteil vom 17.12.1996, Ahmed./.Österreich, InfAuslR 1997, 279.
      81 So Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, 2. Aufl., Art. 3, Rndnr. 22.
      82 Urteil vom 17.12.1996, Ahmed./.Österreich, InfAuslR 1997, 279; Urteil vom 29.4.1997, H.L.R../.Frankreich, NVwZ 1998, 163.
      83 EKMR, Entscheidung vom 3.5.1983, Nr. 10308/83, Altun ./.Bundesrepublik Deutschland, 36 EKMR Dec. & Rep. 236 (1983).