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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

b) Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK)

       69. Laut Urteil des BGH vom 10.11.1998 (VI ZR 243/97 - NJW 1999, 1187) kann ein Versäumnisurteil, das nach schriftlichem Vorverfahren mit den erforderlichen Belehrungen ergangen ist, einem im Ausland wohnenden Beklagten ohne Prozeßbevollmächtigtem im Inland durch Aufgabe zur Post zugestellt werden. Eines vorherigen gerichtlichen Hinweises darauf, daß er einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen habe, bedürfe es nicht. Der Kläger verlangte von dem Beklagten Schadensersatz für Kreditzinsen, die wegen eines Grundstückserwerbs in einem Zeitraum aufgelaufen waren, in dem der Beklagte die mieterfreie Überlassung schuldete, die Räumung jedoch noch nicht vollzogen war. Der Beklagte ist alleinvertretungsberechtigtes Vorstandsmitglied einer nach ihm benannten AG dänischen Rechts mit Sitz in Aarhus. Das LG ordnete am 29.12.1994 das schriftliche Vorverfahren an. Die Klageschrift, die Verfügung des Gerichtes und eine Belehrung über die Folgen der Säumnis wurden dem Beklagten im Rechtshilfeweg am 26.6.1995 durch einfache Übergabe in Aarhus zugestellt. Nachdem der Beklagte hierauf nicht reagiert hatte, erließ das LG am 16.10.1995 ein Versäumnisurteil und setzte die Einspruchsfrist auf drei Wochen fest. Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 19.10.1995 durch Aufgabe zur Post nach § 175 Abs. 1 S. 2 ZPO an dieselbe Adresse in Aarhus ohne weitere Hinweise oder Belehrungen zugestellt. Der Beklagte erhob erst verspätet am 29.11.1995 Einspruch, den das LG wegen Fristversäumnis verwarf. Das OLG wies die Berufung ab, und auch die Revision bleibt erfolglos. Der BGH führte aus, daß die Klageschrift in wirksamer Weise förmlich zugestellt worden sei, da nach Art. 5 Abs. 2 HZÜ84 die einfache Übergabe des Schriftstückes an den Empfänger die Zustellung bewirken könne. Die Zustellung des Versäumnisurteils durch Aufgabe zur Post gem. § 175 Abs. 1 ZPO stelle keinen Fall der Auslandszustellung, sondern eine fingierte Form der Inlandszustellung dar. Da folglich kein Hoheitsakt auf fremden Staatsgebiet vorzunehmen sei, bestünden keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 175 ZPO mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG). Das HZÜ stehe dem nicht entgegen, weil es nur die Modalitäten der Auslandszustellung regele, die Frage, ob eine förmliche Zustellung im Ausland vorzunehmen sei aber dem nationalen Recht überlasse. Ein Versäumnisurteil sei auch kein verfahrenseinleitendes Schriftstück i.S.d Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ,85 so daß auch diese Bestimmung der Anwendung des § 175 ZPO nicht entgegenstehe. Das europarechtliche Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 6 Abs. 1 EGV sei nicht verletzt: Der Beklagte sei als Ausländer zwar gem. § 174 Abs. 2 ZPO dazu verpflichtet gewesen, einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen, während dies für einen Deutschen gem. § 174 Abs. 1 ZPO nur auf Antrag gerichtlich angeordnet werden könne, doch sei diese Ungleichbehandlung dadurch gerechtfertigt, daß eine förmliche Auslandszustellung aller Schriftstücke Erschwernisse und Verzögerungen mit sich brächte, die den Justizgewährungsanspruch des Klägers beeinträchtigen würden. Schließlich gewähre auch Art. 6 Abs. 1 EMRK keine weitergehenden Rechte, da die EKMR es für Ausländer als zumutbar angesehen habe, sich über den Inhalt zugestellter amtlicher Schriftstücke Gewißheit zu verschaffen und für die Einhaltung der Einlegungs- oder Begründungsfristen zu sorgen. Auch das Erfordernis einer Zustelladresse im Verfahrensstaat habe die EKMR mit Blick auf Verfahrensverzögerungen entgegen Art. 6 Abs. 1 EMRK für gerechtfertigt gehalten. Die weiten Gestaltungsspielräume der Vertragsstaaten bei der Ausgestaltung des fair trial-Grundsatzes lassen diese Sonderregelung für Ausländer unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit vor der EMRK Bestand haben.

       70. Der BGH machte in seinem Beschluß vom 21.12.1998 (3 StR 561/98 - NJW 1999, 1198) die Vorgabe, daß grundsätzlich drei Strafmilderungsgründe zu bedenken seien, wenn in einem Strafverfahren zwischen Tat und Urteil außergewöhnlich viel Zeit vergehe oder es zu einer sehr langen Verfahrensdauer komme: den langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil, die Belastungen durch eine lange Verfahrensdauer und die Verletzung des Beschleunigungsgebotes aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. Der Angeklagte war wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes 1992 zum ersten Mal verurteilt worden. Dieses und ein folgendes Urteil wurden jedoch aufgehoben, so daß es erst 1998 zu der nun vorliegenden Entscheidung kam. Der BGH hob auch diese Entscheidung auf und verwies die Sache zurück, da es die Strafkammer trotz dazu drängender Umstände unterlassen habe festzustellen, ob entgegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK das Verfahren verzögert worden sei. Bei langen Abständen zwischen Tat und Urteil oder einer sehr langen Verfahrensdauer sei zu prüfen, ob das Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Zeit verletzt worden sei. Der Richter habe sich die maßgeblichen Umstände im Wege des Freibeweises zu verschaffen, dann Art und Ausmaß der Verzögerung festzustellen und schließlich das Maß der Kompensation zu bestimmen. Im vorliegenden Fall sei nicht aufgeklärt worden, ob das Verfahren aus Gründen verzögert worden sei, die den Strafverfolgungsorganen anzulasten seien.

       71. Der BGH unterstrich in seinem Beschluß vom 5.2.1998 (IX ZB 113/97 - NJW 1998, 2288), daß ausschließlich der EGMR, nicht aber die Gerichte eines Mitgliedstaates, darüber entscheiden könne, ob eine Entschädigung nach Art. 50 EMRK zuzubilligen sei, wenn die Pflicht aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, eine Sache innerhalb angemessener Frist zu hören, verletzt werde. Die Antragsteller waren Erben des früheren Inhabers einer Gerberei im polnischen Radom. Seit 1958 machten die Antragsteller Schadensersatzansprüche wegen ungerechtfertigter Entziehung von Rohhäuten und Leder geltend und erreichten 1995 einen gerichtlichen Vergleich mit der Bundesrepublik, der den Antragstellern eine Million DM zusprach und alle Ansprüche gegenüber dem Deutschen Reich abgelten sollte. Die OFD setzte den geschuldeten Betrag, verzinst seit dem 1.1.1968, auf insgesamt MDM 2.12 fest. Die Antragsteller machen einen Anspruch auf gerechte Entschädigung nach Art. 50 EMRK geltend, da das Rückerstattungsverfahren entgegen Art. 6 EMRK nicht innerhalb angemessener Frist abgewickelt worden sei. Bei Entschädigung zu einem angemessenen Zeitpunkt hätten die Antragsteller mindestens 8% Zinsen, statt der zugrunde gelegten 4%, erzielen können, was einen Gesamtbetrag von DM 3.456.935,23 ergebe. Das LG und das OLG wiesen die Anträge ab, und auch die sofortige Beschwerde zum BGH blieb aus den oben genannten Gründen erfolglos.

      



      84 Haager Zustellungsübereinkommen, BGBl. 1977 II 1452.
      85 Übereinkommen der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968, BGBl. 1972 II 773, i.d.F. des dritten Beitrittsübereinkommens vom 26.5.1989, BGBl. 1994 II 3707.