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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


XIII. Europäische Gemeinschaften

9. Umweltpolitik

       120. Laut Urteil des BVerwG vom 19.5.1998 (4 A 9.97 - DVBl. 1998, 900) können der Verwirklichung einer straßenrechtlichen Planung auch die Vogelschutz-RL164 und die FFH-RL165 entgegenstehen. Ein Naturschutzverband klagte gegen den Planfeststellungsbeschluß für einen ersten Streckenabschnitt der sog. Ostseeautobahn "A 20." Das BVerwG verfügte zunächst die aufschiebende Wirkung der Klage, wies sie nun jedoch in der Hauptsache ab und führte dazu u.a. aus, daß der Planfeststellungsbeschluß sich mit dem Vogelschutzgebiet i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Vogelschutz-RL "Schalsee" befaßt habe, die projektierte Trasse das Gebiet nicht durchschneide und auch keine erheblichen Auswirkungen auf das Schutzgebiet habe, weil die Trassenführung 400-500m von der Grenze des Schutzgebietes entfernt sei und dies sowohl Art. 4 Abs. 4 Vogelschutz-RL als auch Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL genüge. Streitig sei weiter, ob die "Wakenitzniederung" als faktisches Vogelschutzgebiet bzw. als potentielles Schutzgebiet i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 FFH-RL zu beurteilen sei, doch sei die Entscheidung der Planfeststellungsbehörde im Ergebnis rechtsfehlerfrei. Werde angenommen, die Wakenitzniederung sei ein faktisches Vogelschutzgebiet, so begründe die Vogelschutz-RL unmittelbare rechtliche Verpflichtungen für die staatlichen Behörden, weil der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren einen Verstoß der Bundesrepublik gegen Art. 23 Abs. 1 FFH-RL wegen Nichtumsetzung der RL festgestellt habe. Es sei daher zweifelhaft, ob das Schutzregime der Vogelschutz-RL greife oder durch jenes der FFH-RL ersetzt worden sei, doch könne die Frage hier offengelassen werden, da der Planfeststellungsbeschluß keinesfalls vor einem "unüberwindlichen Hindernis" stehe. Art. 4 Abs. 4 Vogelschutz-RL verbiete das Durchbrechen des Schutzregimes mit wirtschaftlichen Gemeinwohlerfordernissen und lasse Einschränkung nur hinsichtlich der menschlichen Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit oder des Natur- bzw. Umweltschutzes zu. Solche Zielsetzungen würden mit dem Bau der A 20 zwar nicht verfolgt, doch hindere dies den Bau dann nicht, wenn gem. Art. 4 Abs. 4 Vogelschutz-RL erhebliche Auswirkungen auf das faktische Vogelschutzgebiet vermieden werden könnten, was hier mittels Untertunnelung mehrfach erwogen worden sei. Daß derartige Lösungen für einen effektiven Vogelschutz nicht ausgeschlossen seien, genüge den Anforderungen, selbst wenn sie wegen des abwägungserheblichen Belangs bedeutender Kostenmehrung nicht befürwortet worden seien. Sei die Wakenitzniederung ein potentielles FFH-Gebiet ohne prioritäre Arten oder Lebensraumtypen, so folge aus der Rechtsprechung des EuGH,166 daß von einem potentiellen Schutzgebiet i.S.d. Art. 4 Abs. 1 FFH-RL auszugehen sei, weil die Mitgliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist von Richtlinien dazu verpflichtet seien, die Ziele der Richtlinie nicht zu unterlaufen, diese Pflicht aber erst recht bestehen müsse, wenn ein Mitgliedstaat Richtlinien vertragswidrig nicht fristgerecht umgesetzt habe. Im Verfahren der Planaufstellung habe daher bereits ermittelt werden müssen, ob potentielle FFH-Gebiete berührt würden und ggf. das Schutzregime des Art. 6 Abs. 2-4 FFH-RL eingehalten würde, zumal den Mitgliedstaaten bei der Auswahl der Schutzgebiete kein politisches Ermessen zustehe. Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 FFH-RL lasse jedoch aus "zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses" - einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art - die Durchführung von Projekten zu, wenn Alternativlösungen nicht vorhanden seien. Dies sei aber ein schwächeres Schutzregime als jenes des Art. 4 Abs. 4 Vogelschutz-RL, so daß jedenfalls kein unüberwindbares Hindernis vorliegen könne. Gleiches gelte, wenn die Wakenitzniederung ein potentielles FFH-Gebiet mit prioritären Arten oder Lebensraumtypen sei, da Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 FFH-Richtlinie es u.a. zulasse, das beabsichtigte Projekt nach Stellungnahme der EU-Kommission aus "anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses" zu verwirklichen.

       121. Das OVG Berlin erklärte in seinem Beschluß vom 9.7.1998 (2 S 9.97 - UPR 1999, 31), daß die Entscheidung der Kommission 94/730/EG167 entgegen der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit168 das Robert-Koch-Institut nicht dazu berechtige, von dem Verfahren des GenTG abzuweichen. Der Antragsteller bewirtschaftete Feldpflanzen nach ökologischen Prinzipien in einem Abstand von 4-5 km Luftlinie von den Versuchsflächen des beigeladenen Robert-Koch-Instituts und wandte sich gegen dessen Praxis, gentechnische Freisetzungsversuche für bestimmte Standorte zu genehmigen und zugleich die Nachmeldung weiterer Standorte für zulässig zu erklären. Nach Auffassung des OVG mußte das Rechtsmittel des Antragstellers trotz erheblicher Zweifel der Rechtsgültigkeit der Entscheidung 94/730/EG im Ergebnis ohne Erfolg bleiben. Es führte dazu aus, daß sich die Entscheidung 94/730/EG als Rechtsgrundlage für die Zulassung der Nachmeldung weiterer Standorte für Freisetzungsversuche mit gentechnisch veränderten Pflanzen im vereinfachten Verfahren auf Art. 6 Abs. 5 RL 90/220/EWG169 stütze. § 14 Abs. 4 GenTG erwähne das vereinfachte Verfahren unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 5 RL 90/220/EWG zwar, doch sei die RL nicht ins deutsche Recht umgesetzt worden. Die Bundesrepublik habe sich lediglich einem Antrag auf Entscheidung der Kommission über die Anwendung des vereinfachten Verfahrens angeschlossen und gehe davon aus, daß die annehmende Entscheidung 94/730/EG durch Bekanntgabe gegenüber der Bundesrepublik unmittelbar geltendes Recht geworden sei. Der Bundesrat habe dieser Auffassung widersprochen170 und die Bundesregierung aufgefordert, eine Rechtsverordnung nach § 14 Abs. 4 GenTG vorzulegen. Der Senat zweifle an der unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit der Entscheidung, weil Kommissionsentscheidungen, anders als Rechtsakte nach Art. 189 EGV, keine formalrechtliche Normqualität besäßen, sondern als Einzelfallentscheidungen individuellen Charakter hätten und nur inter partes verbindlich seien. Bei Annahme einer abstrakt-generellen Wirkung könnten die umfangreichen Mitwirkungsrechte auf nationaler Ebene gem. Art. 23 Abs. 7 GG i.V.m. § 4 und 5 Abs. 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union171 mit einer Kommissionsentscheidung überwunden werden. Auch § 14 Abs. 4 GenTG gehe von der Notwendigkeit einer Umsetzung der Entscheidungen der Kommission oder des Rates nach Art. 6 Abs. 5 RL 90/220/EWG in Form einer Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates aus, so daß der Verzicht auf eine Umsetzung der Entscheidungen zum vereinfachten Verfahren gegen höherrangiges Recht verstoße. Gegen eine unmittelbare Verbindlichkeit der Entscheidung 94/730/EG spreche auch, daß gem. Art. 6 Abs. 5 RL 90/220/EWG die Kommission über Anträge auf Zulassung konkreter Verfahrensvereinfachungen entscheiden und hierfür zunächst geeignete Kriterien festlegen sollte, was in der Entscheidung 93/584/EWG172 auch erfolgt sei. Die Kommission habe dann jedoch ihre Entscheidungsbefugnis mit der Entscheidung 94/730/EG entgegen Art. 6 Abs. 5 RL 90/220/EWG an die Behörden der Mitgliedstaaten delegiert. Der Senat habe Bedenken, ob die Zuständigkeitsverlagerung von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei und ob der damit verbundene Erlaß von Verfahrensregelungen durch die Kommission für die mitgliedstaatlichen Behörden überhaupt mit der Kompetenzverteilung zwischen der EG und den Mitgliedstaaten vereinbar sei, da für den Verwaltungsvollzug und dessen Regelung nach Art. 5 EGV die Mitgliedstaaten zuständig seien. Lege man die Entscheidung aber als RL aus, so fehle es für eine innerstaatliche Verbindlichkeit an der Umsetzung durch hinreichend bestimmte, verbindliche und veröffentlichte Vorschriften. Das Rechtsmittel des Antragstellers müsse dennoch scheitern, da das Verfahrensrecht Drittschutz nur zur Verwirklichung materiellrechtlicher Positionen gewähre, die Einwände des Antragstellers jedoch standortspezifisch seien und Risiko- bzw. Sicherheitsbewertung beträfen. Bei weiteren Freisetzungen von bereits im Standardgenehmigungsverfahren geprüften und genehmigten gentechnisch veränderten Pflanzenarten finde aber sowohl im vereinfachten Verfahren, als auch in einem erneuten Standardgenehmigungsverfahren nur ein Abgleich der Pflanzenarten und ihrer gentechnisch veränderten Eigenschaften statt. Daher könne sich weder die unterlassene Öffentlichkeitsbeteiligung vor der Zulassung der nachgemeldeten Freisetzungsversuche, noch die Durchführung der Freisetzungsversuche selbst auf drittgeschützte Rechtsgüter des Antragstellers ausgewirkt haben.

      



      164 Richtlinie des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten 79/409/EWG, ABlEG 1979 Nr. L 103/1.
      165 Richtlinie des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen 92/43/EWG, ABlEG 1992 Nr. L 206/7.
      166 EuGH, Urteil vom 11.7.1996, Rs. C-44/95, Slg. 1996, 3805.
      167 94/730/EG: Entscheidung der Kommission vom 4.11.1994 zur Festlegung von vereinfachten Verfahren für die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Pflanzen nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (nur der spanische, dänische, deutsche, englische, französische, italienische, niederländische, und portugiesische Text ist verbindlich), ABlEG Nr. L 292 vom 12.11.1994, 31-34.
      168 Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 23.3.1995, BAnz. 1995, 4241.
      169 Richtlinie 90/220/EWG des Rates vom 23.4.1990 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt, ABlEG Nr. L 117 vom 8.5.1990, 15-27.
      170 BR-Drs. 124/96.
      171 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.3.1993, BGBl. 1993 I 311.

       172 Entscheidung der Kommission vom 22.10.1993 zur Festlegung der Kriterien für vereinfachte Verfahren für die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Pflanzen gemäß Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 90/220/EWG des Rates, ABlEG Nr. L 279 vom 12.11.1993, 42-43.