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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


XIII. Europäische Gemeinschaften

12. Assoziierungsabkommen Europäische Gemeinschaften - Türkei

       127. Nach Ansicht des OVG NRW in seinem Beschluß vom 19.1.1998 (17 B 1327/96 - InfAuslR 1998, 156) entspricht der Begriff "Arbeitnehmer" in Art. 6 Abs. 1, Spiegelstr. 3 ARB 1/80182 jenem der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften, insbesondere des Art. 48 EGV. Einem türkischen Staatsangehörigen war nach Abschluß des Medizinstudiums die Tätigkeit als Arzt im Praktikum gestattet, ein Antrag auf Erteilung einer nicht an den Zweck des Studiums gebundenen Aufenthaltserlaubnis jedoch abgelehnt worden. Der Antragsteller beantragte die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs, die das OVG in zweiter Instanz anordnete, weil dem Antragsteller möglicherweise nach Art. 6 Abs. 1, Spiegelstr. 3 ARB 1/80 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei. Danach habe ein türkischer Arbeitnehmer nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates freien Zugang zu jeder Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Nach der Rechtsprechung des EuGH müßten die Grundsätze der Art. 48, 49 und 50 EGV soweit wie möglich als Leitlinien für die Behandlung türkischer Arbeitnehmer herangezogen werden. Der Begriff "Arbeitnehmer" im ARB sei folglich nach jenen Grundsätzen zu verstehen, damit weit auszulegen und nach objektiven Kriterien zu definieren.183 Das Arbeitsverhältnis kennzeichne sich demnach durch weisungsgebundene Leistungserbringung für einen anderen in einem bestimmten Zeitraum gegen eine Vergütung. Habe ein türkischer Arbeitnehmer danach eine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1, Spiegelstr. 1 ARB 1/80 erworben, so sei ohne Belang, daß im Aufnahme-Mitgliedstaat nur befristete oder mit Bedingungen versehene nationale Aufenthalts- und/oder Arbeitserlaubnisse erteilt worden seien, weil die nach dem ARB verliehenen Rechte türkischen Arbeitnehmern unabhängig davon zustünden. Der Antragsteller habe durch eine frühere Tätigkeit als Pflegehelfer eine solche Rechtsposition erworben und vermutlich noch heute inne, weil er auch danach immer dem regulären Arbeitsmarkt angehört habe. Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit würden kein endgültiges Verlassen des Arbeitsmarktes bedeuten und auch die Tätigkeit als Arzt im Praktikum sei, wie sich aus der Rechtsprechung des EuGH zur vergleichbaren Situation von Studienreferendaren ergebe, nach den genannten Kriterien eine Arbeitnehmertätigkeit i.S.d. ARB.184

       128. Für das FG München verstößt laut Urteil vom 30.9.1998 (1 K 3801/97 - EFG 1999, 167) die Verweigerung des Splitting-Tarifs für in der Bundesrepublik tätige türkische Arbeitnehmer, deren Ehegatten in der Türkei leben, nicht gegen Gemeinschaftsrecht. Der Kläger beantragte unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH185 und das Diskriminierungsverbot des AssoziationsAbk EWG-Türkei186 die Zusammenveranlagung mit seiner in der Türkei lebenden Ehefrau, was das Finanzamt verweigerte. Das FG wies die Klage ab und führte dazu u.a. aus, daß die Ehefrau des Klägers im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthaltsort nach § 1 Abs. 1 EStG habe und auch nicht auf Antrag nach § 1 a Abs. 1 Nr. 2 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden könne. Die Anwendung des § 1 a Abs. 1 EStG sei beschränkt auf Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU und des EWR, wozu türkische Staatsangehörige nicht zählten. Dies verstoße auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht, da § 1 a EStG der Rechtsprechung des EuGH zur Besteuerung von Gemeinschaftsbürgern Rechnung trage. Der EuGH habe die Möglichkeit einer versteckten Diskriminierung von EU-Staatsbürgern durch das nationale Einkommenssteuerrecht bejaht und ein entsprechendes Verbot aus Art. 48 EGV abgeleitet, weil andernfalls der Grundsatz der gleichen Entlohnung seiner Wirkung beraubt werden könne.187 Das AssoziationsAbk EWG-Türkei gewähre jedoch keine entsprechenden Rechte, da türkische Staatsangehörige nach ständiger Rechtsprechung des EuGH beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießen würden.188 Sie hätten bei reccfmäßiger Einreise i.V.m. einer ordnungsgemäßen Beschäftigung über einen bestimmten Zeitraum nur bestimmte Rechte in dem Aufnahme-Mitgliedstaat, die eine Zusammenveranlagung mit einem in der Türkei lebenden Ehegatten nicht vorsehen würden. Das Assoziationsrecht sehe keine entsprechende unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung der Gemeinschaft vor,189 noch sei eine anderweitige Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ersichtlich.

       129. Das FG Bremen verneinte mit Beschluß vom 22.1.1998 (4 97 131 S 1 - EFG 1998, 1069) Ansprüche auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige ohne Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis. Ein türkischer Staatsangehöriger mit Aufenthaltsbefugnis beantragte erfolglos Kindergeld für seine vier Kinder, die mit ihm und seiner Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt in der Bundesrepublik lebten. Das FG wies einen Antrag auf Prozeßkostenhilfe mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg ab und führte dazu aus, daß der Antragsteller keinen Anspruch auf Kindergeld habe, da nach § 62 Abs. 2 EStG ein Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld habe, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung nach § 27 AuslG oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 15 AuslG sei. Der Antragsteller halte sich jedoch auf der Grundlage einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG in der Bundesrepublik auf. Er könne auch aus ARB 3/80190 keine Ansprüche ableiten, da sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebe, daß die Bestimmungen von Abkommen der Gemeinschaft mit Drittländern nur dann unmittelbar anwendbar seien, wenn sie ihrem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des Abkommens nach eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten würden, deren Erfüllung oder Wirkungen nicht vom Erlaß weiterer Rechtsakte abhänge.191 Der ARB 3/80 genüge diesen Anforderungen nicht, so daß er von den nationalen Gerichten ohne ergänzende Durchführungsmaßnahmen des Rates nicht angewandt werden könne.192

       130. Nach Ansicht des bayerischen VGH in dem Urteil vom 4.2.1998 (M 8 K 96.2610 - InfAuslR 1998, 154) setzt Art. 7 S. 1 ARB 1/80193 eine Nachzugsgenehmigung zur Herstellung der Familieneinheit voraus, so daß ein tatsächlicher reccfmäßiger Aufenthalt zu anderen Zwecken nicht ausreicht. Ein türkischer Staatsangehöriger reiste zu seinen Eltern ins Bundesgebiet ein und erhielt zunächst eine Aufenthaltserlaubnis zur Teilnahme an Deutschkursen, später für ein Elektrotechnikstudium an einer Fachhochschule. Die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wurde abgelehnt, als er einen Wechsel an eine Universität ankündigte, ohne Prüfungen an der Fachhochschule abgelegt zu haben. Das VG wies seine Klage ab, und auch die Berufung blieb erfolglos. Der VGH führte dazu aus, daß in der Rechtsprechung des EuGH194 Art. 7 S. 1 ARB 1/80 voraussetze, daß ein Familienangehöriger die Genehmigung erhalten habe, zum Zweck der Familienzusammenführung zu einem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehöre. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 enthalte damit kein Recht auf Familiennachzug, sondern setze eine Nachzugsgenehmigung zur Herstellung einer Familieneinheit voraus. Ein tatsächlicher reccfmäßiger Aufenthalt zu anderen Zwecken reiche danach nicht aus.

       131. Das VG München war in seinem Urteil vom 25.5.1998 (M 8 K 98.1457 - NVwZ-Beilage 4/1999, 37) der Auffassung, daß der Begriff der "außergewöhnlichen Härte" in § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AuslG n.F. nicht so eng ausgelegt werden dürfe, daß nur Fälle einer völlig unzumutbaren Rückkehr erfaßt würden. Eine türkische Staatsangehörige war im Wege des Ehegattennachzugs ins Bundesgebiet eingereist und gründete knapp zwei Jahre später, nach einem fünfmonatigen Zwischenaufenthalt in der Türkei, einen selbständigen Haushalt. Die Ausländerbehörde verfügte daraufhin die nachträgliche Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis und drohte die Abschiebung an, weil keine eheliche Lebensgemeinschaft mehr gegeben sei. Die Klägerin erhob Anfechtungsklage, beantragte erfolglos die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis und stellte daraufhin ihr Rechtsschutzbegehren auf eine Verpflichtungsklage um. Das VG legte deshalb dem EuGH die Fragen vor, ob die Anwendbarkeit des Art. 7 S. 1 ARB 1/80195 voraussetze, daß die familiäre Lebensgemeinschaft im Zeitpunkt der Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen noch bestehe, ob dies einen ununterbrochenen dreijährigen ordnungsgemäßen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft voraussetze und ob auf den Zeitpunkt der dreijährigen ordnungsgemäßen Wohnsitznahme ein freiwilliger oder erzwungener fünfmonatiger Zwischenaufenthalt in der Türkei anzurechnen sei. Der EuGH habe geantwortet,196 daß Ansprüche von Familienangehörigen grundsätzlich von einem dreijährigen gemeinsamen Wohnen mit dem Arbeitnehmer abhängig gemacht werden könnten, jedoch objektive Gründe ein Getrenntleben rechtfertigen könnten. Grundsätzlich müsse der Familienangehörige auch einen ununterbrochenen dreijährigen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat haben, jedoch sei ein unfreiwilliger Heimataufenthalt von weniger als sechs Monaten zu berücksichtigen. Das VG gab der Klage daraufhin nach § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 AuslG n.F. mit der Begründung statt, daß die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten bei Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges Aufenthaltsrecht zu verlängern sei, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft reccfmäßig im Bundesgebiet bestanden habe und es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich sei, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen - es sei denn, für den Ausländer sei die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen. Eine außergewöhnliche Härte liege vor, wenn die Rückkehrverpflichtung dem Ehegatten nach Art und Schwere so erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, daß die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als nicht vertretbar erscheinen müsse. Eine außergewöhnliche Härte dürfe nicht erst dann angenommen werden, wenn eine Rückkehr schlechthin unzumutbar sei, weil man sich andernfalls den Abschiebungshindernissen des § 53 Abs. 6 AuslG annähern würde.

      



      182 Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980, abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokument, 327 (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1992).
      183 EuGH, Urteil vom 30.9.1997, Rs. C-98/96, Slg. 1997, 5179; Urteil vom 30.9.1997, Rs. C-36/96, Slg. 1997, 5143; Urteil vom 6.6.1995, Rs. C-434/93, Slg. 1995, 1475.
      184 EuGH, Urteil vom 3.7.1986, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121.
      185 EuGH, Urteil vom 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, 3089.
      186 Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei, ABlEG Nr. 217 vom 29.12.1964, 3687-3700.
      187 EuGH, Urteil vom 8.5.1990, Rs. C-175/88, Slg. 1990, 779; Urteil vom 14.2.1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, 225.
      188 EuGH, Urteil vom 30.9.1997, Rs. C-98/96, EuZW 1998, 533; Urteil vom 30.9.1997, Rs. C-36/96, EuZW 1998, 538.
      189 EuGH, Urteil vom 30.9.1987, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719; Urteil vom 10.9.1996, Rs. C-277/94, Slg. 1996, 4085.
      190 Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der EG auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörige vom 19.9.1980, abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokument, 349 (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1992).
      191 EuGH, Urteil vom 30.9.1987, Rs. 12/86, NJW 1988, 1442.
      192 EuGH, Urteil vom 10.9.1996, Rs. C-277/94, EuZW 1997, 179.
      193 Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980, abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokument, 327 (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1992).
      194 EuGH, Urteil vom 17.4.1997, Rs. C-351/95, Slg. 1997, 2133.
      195 Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980, abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokument, 327 (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1992).
      196 EuGH, Urteil vom 17.4.1997, Rs. C-351/95, Slg. 1997, 2133.